
Die 23 Meter hohen Tore müssen sich auch bei hoher Windstärke noch problemlos öffnen und schließen lassen. Daher wurden die Torantriebe auf eine maximale Zuglast von 80 KN pro Torflügel ausgelegt. Gut erkennbar ist der äußere Teil der Fahrwerke. (Bild: SEW-Eurodrive)
Mit dem neuen Luftschiffhangar der Westdeutschen Luftwerbung ist am Flughafen Essen/Mülheim ein Leuchtturmprojekt entstanden, das weit über die Region hinaus strahlt. Der Neubau wurde weitgehend aus nachwachsenden und recycelbaren Baustoffen errichtet. In einer Symbiose aus Schwermaschinenbau, Architektur und Antriebstechnik von SEW-Eurodrive schuf der Automatisierungsspezialist INperfektion für die Toranlage eine Antriebslösung, die nicht nur bei der Nutzung des Hangars als Eventlocation für Wow-Effekte sorgt.
In Kürze
- Der neue Luftschiffhangar der Westdeutschen Luftwerbung (WDL) am Flughafen Essen/Mülheim ist ein nachhaltiges Prestigeprojekt.
- Errichtet aus recycelbaren Materialien, kombiniert er moderne Architektur mit innovativer Antriebstechnik von SEW-Eurodrive.
- Die 23 Meter hohen, 72 Tonnen schweren Holztore öffnen sich spektakulär per Knopfdruck
- Das ermöglicht eine multifunktionale Nutzung – als Luftschiff-Hangar und Eventlocation für bis zu 1.500 Gäste.
Kathedralenartiger Innenraum des gigantischen Hangars
Langsam öffnen sich die beiden Torflügel, beeindrucken durch ihre majestätische Höhe von 23 Metern. Nach und nach wird der kathedralenartige Innenraum des gigantischen Hangars sichtbar, taucht der graue Rumpf des 60 Meter langen Luftschiffs „Theo“ aus dem Dunkel des Inneren auf. Unweigerlich kommt einem die sinfonische Dichtung „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss in den Sinn. Die einleitenden Takte mit der berühmten Steigerung wären die passende Untermalung für die sich öffnenden Flügeltore. Angetrieben von Paukenschlägen wird nach einigen plötzlichen, starken Betonungen der musikalische Höhepunkt erreicht, dem die Orgel einen geradezu religiösen Charakter verleiht.
Standort mit Tradition
Doch das Ganze findet nicht in einem Konzertsaal statt, sondern auf dem Flughafen Essen/Mülheim im westlichen Ruhrgebiet – einem Gelände mit langer Tradition, das schon seit über 100 Jahren angeflogen wird. Die Westdeutsche Luftwerbung Theodor Wüllenkemper GmbH & Co. KG (WDL) betreibt seit 1972 von hier aus Werbe- und Passagierflüge mit Prallluftschiffen, auch Blimps genannt. Sie haben kein starres Innengerüst und erhalten ihre Form durch die Hülle und den Innendruck. Ende der 1980er Jahre errichtete WDL einen Hangar, der bis zu zwei Luftschiffen Platz bot. Die wegen ihrer Farbe und Form liebevoll „Grüne Raupe“ genannte Konstruktion entwickelte sich zu einem echten Hingucker, der sich auch als Veranstaltungsort großer Beliebtheit erfreute. Ein für die Westdeutsche Luftwerbung durchaus interessantes, neues Geschäftsfeld, wie Dennis Weiler, bei der WDL für Veranstaltungsorganisation zuständig, erklärt: „Gerade in Verbindung mit dem Luftschiff ist das hier ein ganz besonderer Veranstaltungsort.“
Hangar und Eventlocation
Nach über 30 Jahren war es Zeit für etwas Neues, die „Grüne Raupe“ entsprach einfach nicht mehr den technischen, energetischen und funktionalen Anforderungen. WDL plante daher einen neuen Hangar, der „Theo“ ein modernes Zuhause bieten sollte. Von Anfang an war dieser neue Luftschiffhangar auch als Veranstaltungshalle geplant. Und damit spannt sich der Bogen zu den imposanten Toren: „Gerade bei Veranstaltungen soll es ein Erlebnis sein, wenn sich die Tore öffnen“, so Weiler. „Der Wunsch von WDL an die Architekten war, etwas Innovatives zu schaffen, eine neue Landmarke zu realisieren. Es sollte auch ein Denkmal für unsere beiden Firmengründer Theodor Wüllenkemper und Inge Bachmann sein, das ihr innovatives Denken widerspiegelt.“
Multifunktionale Halle verbindet Funktion und Ästhetik
Exakt das schuf das Architekturbüro Smyk & Fischer aus Mühlheim: Eine multifunktionale Halle, die Funktion und Ästhetik in einem skulpturalen Bauwerk vereint und Platz für zwei Luftschiffe oder bis zu 1.500 Gäste bietet. Ihre runde Form weckt Assoziationen an ein auf dem Boden stehendes Luftschiff. An die Stelle der seinerzeit verwendeten Foliendächer ist eine vollständig recycelbare Aluminiumfassade getreten. Die komplette Tragwerkskonstruktion des imposanten Baus – die Abmessungen betragen 92 mal 42 Meter, der höchste Punkt misst 26 Meter, der Brutto-Rauminhalt beträgt 71.000 Kubikmeter – besteht aus 557 Tonnen Holz. Der Neubau entspricht den Kriterien der Kreislaufwirtschaft, wurde weitgehend aus nachwachsenden und recycelbaren Baustoffen errichtet und trägt das Nachhaltigkeitszertifikat in Gold der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB).
Know-how aus Automatisierung und Schwerindustrie
Auch das Tor ist eine komplette Holzkonstruktion und beeindruckt mit spektakulären Dimensionen: 400 Quadratmeter Fläche pro Torflügel, jeder von ihnen wiegt 72 Tonnen. Das Öffnen der Torflügel sollte per Knopfdruck erfolgen. „Wir erhielten von den Architekten Entwürfe der Tore, in denen die Grundfunktion vorgegeben war, aber keine Vorgaben für den Antrieb“, erinnert sich Niklas Soesters, Projektleiter bei der Firma INperfektion in Wegberg, gut 50 Km westlich von Düsseldorf. Das Unternehmen ist Spezialist für die Entwicklung, Konstruktion, Fertigung und Optimierung von automatisierten Maschinen und Anlagen.
Automation Partner
...wie die Firma INperfektion sind Full-Service-Provider für Automatisierungslösungen. Sie gehören zu einem Expertennetzwerk, das effiziente industrielle Lösungen erarbeitet. Innovative Ansätze und hohe Qualitätsmaßstäbe vereinen sich in Projekten für den Sondermaschinenbau und die Automatisierung. INperfektion und SEW-Eurodrive bündeln ihre Kompetenzen, um den Kunden Lösungen in bestmöglicher Qualität zu bieten. Zu den Kerndisziplinen von INperfektion gehören Hard- und Softwareentwicklung, Elektronikfertigung, Elektroanlagenkonstruktion und Schaltschrankbau. Das Unternehmen steht für maßgeschneiderte schlüsselfertige Lösungen im Automatisierungsprozess. Dazu gehören lückenlose Entwicklung, Konstruktion, Planung und Dokumentation. Die Firma mit Sitz in Wegberg (Kreis Heinsberg, NRW) realisiert Projekte für unterschiedliche Industriesegmente, z. B. für die Montanindustrie, Automotive sowie die Lebensmittelbranche.
Der Auftrag zur Realisierung des Torantriebs kam durch einen glücklichen Zufall zustande: Das Architekturbüro Gronau, das das neue Firmengebäude von INperfektion in Wegberg entworfen hat, war auch für die Ausführungsplanung und Bauleitung des neuen WDL-Hangars verantwortlich. Kurzerhand fragten die Architekten bei INperfektion an, ob sie die Torantriebe konstruieren könnten – und sie konnten. Denn INperfektion kennt sich nicht nur mit filigraner Robotik aus, sondern realisiert auch Projekte in der Schwerindustrie, in Stahlwerken und ähnlichen Betrieben. Neben dem Antriebskonzept lieferte INperfektion die gesamte Schaltplanung, fertigte die notwendigen Schaltschränke und führte die komplette Verkabelung durch.
„Für den Torantrieb haben wir – auf Basis eines Kastenträgers mit zwei Radsätzen – Fahrwerke entwickelt, die ca. 120 Tonnen tragen können“, berichtet Niklas Soesters. Jeder Torflügel ruht auf einem dieser Fahrwerke sowie auf einem Drehpunkt am seit- lichen Ende des Hangars. Dieser Drehzapfen ist in ein 36 Quadratmeter großes Fundament eingelassen. Das heißt, jeder Torflügel ist nur am Boden befestigt. Um mögliche Kippmomente der Torflügel aufnehmen zu können, sind die Kastenträger rund zwölf Meter lang, die Räder sind jeweils an den Enden montiert.
Wind und Schnee sind einkalkuliert
Für den Antrieb hat INperfektion jedes Rad mit einer Motor-Getriebe-Kombination von SEW-Eurodrive ausgerüstet: „Wir arbeiten schon lange mit SEW zusammen, sind auch Automation Partner“, so Niklas Soesters. „Für dieses Projekt haben wir von den Bruchsalern große Unterstützung bekommen – unter anderem bei der Auslegung der Antriebe.“ Denn als besondere Schnittstelle erforderte das Tor ein Höchstmaß an Präzision und eine integrale Planung in einem interdisziplinären Team.
„Bei der Konzeption der Antriebe mussten zahlreiche Parameter berücksichtigt werden“, erläutert Frank Peifer, Vertriebsingenieur Automatisierungstechnik im Technischen Büro Langenfeld von SEW-Eurodrive. „Man hat nicht jeden Tag ein Projekt, bei dem man für die Antriebsdimensionierung auch Wind oder Schnee einkalkulieren muss. Daher war es wichtig, beim Design der Antriebe in enger Abstimmung mit INperfektion und dem Architekturbüro zu arbeiten.“ So sollten sich die Tore auch bei einer Windstärke von 4,99 auf der 13- teiligen Beaufort-Skala noch problemlos öffnen und schließen lassen. Das entspricht einer frischen Brise mit Windgeschwindigkeiten um die 30 Kilometer pro Stunde. Die Antriebe mussten dafür auf eine maximale Zugkraft von 80 kN pro Torflügel ausgelegt werden.
Torflügel können den Schnee räumen
Erreicht wurde das durch eine Antriebslösung, bei der jedes der vier Räder von einem 15 kW starken Motor angetrieben wird. Je zwei Motoren werden gemeinsam von einem 30-kW-Umrichter Movidrive angesteuert, der über Profinet mit einer übergeordneten Steuerung kommuniziert. Um die Torflügel auch bei starkem Wind sicher zu bewegen oder den Schnee vor dem Tor zu „räumen“, muss jedes der beiden Industriegetriebe am Abtrieb ein Drehmoment bis 22 kNm aufbringen, also 44 kNm pro Torflügel. „Die Anforderung bestand darin, ein Getriebe zu finden, das ein hohes Nenndrehmoment hat und gleichzeitig eine kompakte Bauweise. Deshalb haben wir uns für Planetengetriebe entschieden“, erklärt Frank Kleta, bei SEW-Eurodrive zuständig für den Vertrieb von Industriegetriebe-Systemen.
Die Wahl fiel dabei auf Industrie-Planetengetriebemotoren der P2-Baureihe. Die Kombination aus kompaktem Planetengetriebe und vorgeschaltetem Kegelstirnradgetriebe ist die beste Lösung für Anwendungen, die niedrige Abtriebsdrehzahlen bei gleichzeitig hohen Drehmomenten erfordern. Durch das direkt angebaute Vorschaltgetriebe entfallen zusätzliche platzraubende und kostenintensive Komponenten wie Kupplungen, Zwischenflansche und Adapterglocken.
Sicherheit für Mensch und Konstruktion
Neben den Hauptantrieben kommen weitere Getriebemotoren von SEW-Eurodrive zum Einsatz: sechs für den Antrieb der Verriegelungen der geschlossenen Tore am Hangardach sowie zwei weitere für die beiden Bodenverriegelungen. Bei der Programmierung der Antriebslösung musste das Zusammenspiel all dieser Komponenten abgebildet werden. „Steuerungstechnisch war das aber nicht besonders komplex“, sagt Niklas Soesters. Einzig der Sicherheitsaspekt war etwas Besonderes, wie er weiter berichtet: „Bei der Gefährdungsbeurteilung mussten wir neben der Personensicherheit auch den Schutz der Hallen- und Torkonstruktion berücksichtigen.“ So sind an den Drehzapfen Sensoren angebracht, die den Öffnungswinkel der Torflügel überwachen. Würden sich die Tore zu weit öffnen, verließen die Laufwerke die im Boden verlegten Schienen. Stoppen die Antriebe beim Schließen nicht rechtzeitig, könnte die Hangarkonstruktion beschädigt werden. Außerdem sorgt ein Drei-Personen-Prinzip dafür, dass niemals ein Mensch allein die Tore öffnen kann. Dazu müssen zwei Personen während der gesamten Toröffnungszeit jeweils einen Totmannschalter drücken und gleichzeitig eine dritte Person einen Taster auf der Digitalanzeige am Schaltschrank. Außer im Automatikbetrieb, da muss der Bediener am HMI den Taster nicht gedrückt halten.
Vielfach ausgezeichnete Konstruktion
Nur sieben Monate lagen zwischen Abriss der „Grünen Raupe“ und der Inbetriebnahme des neuen Hangars. Den Ingenieuren ist bei den Toren eine Symbiose aus Architektur und Schwermaschinenbau gelungen, die schon bei vielen Veranstaltungen für echte „Wow-Effekte“ gesorgt hat. Die Hangarkonstruktion wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Architekturpreis NRW“ des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA, dem Ernst & Sohn Ingenieurbaupreis sowie dem Location Award, einer Auszeichnung für besondere Veranstaltungsstätten. Die Entscheidung von Zeppelin, ab 2024 ein Luftschiff vom Typ Zeppelin NT dauerhaft im neuen Luftschiffhangar zu stationieren, adelt den Bau zusätzlich.