Nicht nur deshalb bewegt das Thema Normierung weltweit Konzerne und Nationen. Die Redaktion von Automation NEXT sprach dazu mit Michael Teigeler, Geschäftsführer der ‚DKE Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik in DIN und VDE‘, und Dr. Kurt D. Bettenhausen, Präsident der DKE und gleichzeitig Member of the IEC Board sowie Präsident des Deutschen Nationalen Komitees der International Electrotechnical Commission (IEC).
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Regeln, Normen, Standards: Das klingt nach Bürokratie und verstaubter deutscher Gründlichkeit. Warum geht es ohne Normen und Standards nicht?
Michael Teigeler: Naja, die elektrotechnische Normungsarbeit erfolgt in der Regel industriegetrieben mit dem Ziel der Rationalisierung, der Schnittstellenbeschreibung oder der Beurteilung von Qualität, Sicherheit und Funktion. Das Einhalten von Normen und Standards ist aber grundsätzlich freiwillig. Nur im Ausnahmefall wird das Einhalten durch Verweisung in Gesetzen und Vorschriften gefordert. Vor allem, um grundlegende Sicherheits- und Umweltanforderungen zu erfüllen.
Dr. Kurt D. Bettenhausen: Die Geschichte der konsensbasierten Normung in Elektrotechnik und Maschinenbau ist mehr als 100 Jahre alt. Im Ursprung sollte sie für die Sicherheit der Anwender sorgen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Wenn wir an die Dampfkessel-Verordnungen denken und alles, was in diesem Bereich passiert ist, um mechanische Energie zu erzeugen oder an das Thema Luft- und Kriechstrecken bei Strom und Spannung, um den Benutzer vor Stromschäden zu schützen, darin liegt der Ursprung der Normung.
Im zweiten Schritt geht es um Rechtssicherheit. Die Menschen, die etwas planen, etwas errichten, die etwas in Betrieb nehmen und die dies hinterher benutzen, egal, ob dies Privatpersonen oder gewerbliche Nutzer sind, die möchten ja sicher sein, dass das, was sie nutzen, auch den Regelwerken entspricht. Und diese Regelwerke brauchen sie in irgendeiner Form zum Nachlesen.
Der dritte Punkt und der ist nicht ganz unwichtig, ist der Investitionsschutz. Das betrifft sowohl die privaten als auch die gewerblichen Nutzer, also die, die Geräte, Produkte, Systeme herstellen. Wenn ich als Unternehmen eine spezialisierte, teure Maschine kaufe, um zum Beispiel Steckverbinder oder ähnliches zu fertigen, dann möchte ich ja sicher sein, dass diese Maschine auch in Zukunft noch genutzt werden kann. Also, dass ich diese auch regelwerkskonform im Betrieb halten kann und damit meine Investition absichere.
Und zu guter Letzt, möchte ich am Ende des Tages erfolgreich weltweit Märkte erschließen. Und dafür ist es eine gute Voraussetzung, wenn dieser Standard weltweit anerkannt ist. Dafür muss er idealerweise auf dem konsensualen Weg entstanden sein.
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann kommt vom alten Werner von Siemens der Spruch, „Wem die Standards gehören, dem gehört der Markt.“
Wenn Sie das Thema Rechtskonformität und Rechtssicherheit ansprechen, das stelle ich mir relativ schwer vor?
Teigeler: Die Politik hat hier zum Glück früh erkannt, dass es unklug ist, wenn Juristen technische Festlegung machen. Gesetze definieren die grundlegenden Anforderungen an ein Produkt, und die Normen spezifizieren dann die tatsächliche technische Umsetzung. Also die Juristen und die Politiker legen grob die Schutzziele fest und die technische Spezifizierung erfolgt dann in den Normungsgremien u.a. in Zusammenarbeit mit der Industrie und den Verbrauchern. Weltweit bewegt das Thema Konzerne und Nationen.
Wer setzt überhaupt die Standards?
Teigeler: In Deutschland existieren zwei anerkannte Normungsorganisationen. Zum einen DIN für die allgemeinen Normungsthemen und DKE für den Bereich der Elektro- und Informationstechnik. Inhaltlich getragen wird das Normungswesen von Wirtschaft, Wissenschaft, Verbrauchern und anderen Interessensgruppen. Die internationale Normung wird durch Organisationen wie die ISO (International Organization for Standardization) und die IEC (International Electrotechnical Commission) koordiniert. Dort vertreten DKE und DIN als wichtige Mitgliedsorganisationen die deutschen Interessen. Gremien mit Fachleuten aus verschiedenen Ländern erarbeiten gemeinsam Normen, die dann von den IECund ISO-Mitgliedsländern überprüft und angenommen werden. So lässt sich sicherstellen, dass internationale Normen eine gemeinsame Grundlage für Produkte und Dienstleistungen auf globaler Ebene bilden.
Die DKE widmet sich mit ihrer Normungsarbeit der elektrotechnischen und informationstechnischen Normung und Standardisierung in Deutschland. So können wir dafür sorgen, dass innovative elektrotechnische Produkte und neue Technologien wie beispielsweise Elektrofahrzeuge und intelligente Haustechnik sich schnell und sicher in unseren Alltag integrieren lassen. Da helfen die grundlegenden Strukturen von Normen und Standards, da sie die Integration und Verbreitung neuer Innovationen erheblich vereinfachen und Akzeptanz beim Verbraucher erzeugen.
Zur Person: Michael Teigeler
Als Sekretär des Nationalen Komitees von IEC und CLC vertritt Michael Teigeler, DKE-Geschäftsführer, die deutschen Interessen in den Lenkungsgremien sowie deren anhängigen Arbeitskreisen. Nach einem Elektrotechnik-Studium an der Hochschule Darmstadt (Fachrichtung Automatisierungstechnik) arbeitete Michael Teigeler zunächst in der Industrie. Seit 1995 ist er bei der DKE tätig und leitete unter anderem die Abteilung Internationale Zusammenarbeit. 2012 wechselte er in die Geschäftsführung und übernahm 2017 die alleinige Geschäftsführung der DKE.
Wer bestimmt die Normungswelt auf globaler Ebene? Wir haben ja die verschiedensten Märkte: den asiatischen Markt, den amerikanischen und den europäischen.
Teigeler: Mithilfe verschiedener Veröffentlichungsformen mit unterschiedlicher Verbindlichkeit haben diese Organisationen inzwischen auch dafür gesorgt, dass der Stand der Technik für neue, aufstrebende Technologien zunächst schnell in technischen Spezifikationen oder informativen Berichten dokumentiert werden kann. Über nachfolgende Entwicklungsschritte können diese dann zu nationalen, europäischen und internationalen Normen und Standards weiterentwickelt werden.
Alle angesprochenen Märkte und Länder sind Mitglied in den großen Normungsorganisationen, was bedeutet, man hat sich der internationalen Normung gegenüber verpflichtet. Wie man die einzelnen Normen im Land selbst umsetzt, ist immer sehr individuell interpretierbar. In Europa wird dies sehr ernst genommen. Das heißt, nur noch ein Standard für ein Produkt in ganz Europa. Andere Länder machen es anders. Die Amerikaner nehmen die internationalen Normen und machen eine Anerkennung. Also in etwa, was da beschrieben steht, ist okay und das können wir uns vorstellen, diese Norm anzuwenden. Aber wir haben noch ungefähr 25 andere amerikanische Normen, die decken das gleiche Thema ab. Der Beste wird gewinnen. Das ist der amerikanische Ansatz.
Bettenhausen: Demzufolge ist von der Idee her die Normungsorganisation so wichtig. Also alle sollten das Interesse haben, solide Rahmenbedingungen für ihre Länder zu schaffen. Und wenn das mit der internationalen Standardisierung vernünftig klappt, dann kann ein Unternehmen, das multinational tätig ist, etwas in Deutschland entwickeln und es im Rest der Welt verkaufen, ohne es dann an andere Standards adaptieren zu müssen. Wenn das nicht funktioniert, dann habe ich einen zusätzlichen Aufwand und damit auch wirtschaftlich betrachtet, eine Markteintrittsbarriere. Es gibt immer wieder Phasen, in denen das Thema Standards auch als Markteintrittsbarriere missbraucht wird. Meist hat sich aber gezeigt, dass es im Rahmen der Globalisierung nicht gerade hilfreich war, wenn ich für alle Märkte unterschiedlich entwickeln muss.
Teigeler: Es gibt Länder, die spielen dieses Normungs-System so ‚geschickt‘ und trickreich, dass sie dann eben leider doch nationale Normen haben, die Sachverhalte anders regeln als internationale Normen.
Das ist das Erfolgsprinzip der Normung. Die beste Lösung wird sich in irgendeiner Form durchsetzen.
Welche Rolle spielt Deutschland bei der Normung?
Bettenhausen: Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann kommt vom alten Werner von Siemens doch der Spruch, „Wem die Standards gehören, dem gehört der Markt.“
Teigeler: Nehmen Sie beispielsweise die gesamten elektrotechnischen Sicherheitsnormen, die weltweit jetzt etabliert sind, sie haben ihren Ursprung in Deutschland. Die ursprünglichen VDE-Normen sind heute internationalisiert. Das ist schon ein ziemlicher Erfolg und wir sind auch heute nach wie vor führend in den technischen Arbeitsgruppen. Und die Normung basiert auf Konsens. Manche technischen Lösungen sind sehr clever, und da muss man zugeben, dass andere Länder auch mal vorne sind. Das ist ja das Erfolgsprinzip der Normung. Die beste Lösung wird sich in irgendeiner Form durchsetzen. Dann sind es mal die Deutschen und zunehmend jetzt auch die chinesischen Lösungen
Zur Person: Kurt D. Bettenhausen
Dr. Kurt D. Bettenhausen war bis vor Kurzem Vorstand für Neue Technologien und Entwicklung bei der Harting-Technologiegruppe. Dort prägte er maßgeblich die Innovations- und Technologie-Roadmap des Unternehmens. Er trieb entscheidende Themen wie das Product Lifecycle Management, die Qualitätssicherung sowie Innovation und Entwicklung, auch im internationalen Kontext, voran. Bettenhausen ist seit Anfang 2023 Präsident der Deutschen Kommission Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (DKE) und gleichzeitig Member of the IEC Board und Präsident des Deutschen Nationalen Komitees der International Electrotechnical Commission (IEC).
Wie ist der Stellenwert von China? Zurzeit kommt es zu einer internationalen Verbreitung von staatlich getriebenen, nationalen Technologiestandards aus China.
Teigeler: Ja, China hat die strategische handelspolitische Relevanz von Normen entdeckt. Man hat sich eine Strategie gemacht, welche knallhart befolgt wird. Es werden gezielt und in großer Anzahl technische ExpertInnen in die Gremien von IEC und ISO geschickt. Zu Beginn hat man noch über die technischen Vorschläge, die aus China kamen, gelächelt. Inzwischen lacht keiner mehr, weil das, was aus China kommt, hat inzwischen echte Substanz. Die Beiträge sind zumeist qualitativ hochwertig. Ja, und es geht sogar so weit, dass inzwischen Normungs-Anträge aus China kommen, wo wir fast keine Expertise mehr aufweisen können. Das Blatt hat sich gewendet, leider.
Bettenhausen: Das muss man nicht beschönigen. Was man den Chinesen jetzt wirklich nicht vorwerfen kann, ist, dass sie etwas Verbotenes oder Geheimes machen. Sie haben eine Strategie erarbeitet und veröffentlicht. Sie investieren in Menschen, haben eine eigene Hochschule für Standardisierung gegründet, die sich mit nichts anderem beschäftigt, als Leute für Standards und Standardisierung auszubilden. Extrem hoch ausgebildete Menschen. Normung und Standardisierung wird ernst genommen.
China besteht aus 22 Provinzen, fünf autonomen Regionen mit 1,412 Mrd. Menschen und wenn sich die einzelnen Provinzen noch gegenseitig mit konkurrierenden Standards Konkurrenz machen würden, wäre ein Scheitern vorprogrammiert. Das heißt, China muss auch aus purem Eigeninteresse dafür sorgen, dass sinnvolle Lösungen und Standards geschaffen werden.
Im Prinzip verfolgt die Volksrepublik die gleiche Strategie wie Deutschland und andere Länder vor vielen Jahren, indem sie versucht, ihre nationalen Standards als internationale zu etablieren. Im Unterschied zu den USA und Europa hat in China der Staat die Zügel in der Hand, denn Normungsarbeit ist ein gutes Instrument zur Durchsetzung von industrie-, handels- und geopolitischen Zielen. Wenn man sich die internationale Verbreitung von staatlich getriebenen, nationalen Technologiestandards aus China im Rahmen der ‚Neuen Seidenstraße‘ betrachtet, besteht die Gefahr einer Zersplitterung von Marktzugangsbedingungen.
Wir müssen dem begegnen, indem wir Normungsprozesse beschleunigen und praxistauglicher gestalten, etwa in der All Electric Society, der Wasserstoffwirtschaft, der künstlichen Intelligenz und Cybersicherheit.