Den Rollstuhl antreiben, steuern und gleichzeitig eine Hand frei haben zum Telefonieren - das war bisher unmöglich. Mit einer neuen, rein mechanischen Steuerung für den Rolli haben Forschende der ETH Zürich das geändert.

Den Rollstuhl antreiben, steuern und gleichzeitig eine Hand frei haben zum Telefonieren - das war bisher unmöglich. Mit einer neuen, rein mechanischen Steuerung für den Rolli haben Forschende der ETH Zürich das geändert. (Bild: Reto Togni & Stefan Villiger / ETH Zürich)

Was haben ein Rollstuhl und ein Einkaufswagen gemeinsam? Bei beiden sind die kleinen Vorderräder frei beweglich, um das Gefährt möglichst wendig zu machen. Die frei drehbaren Räder haben aber auch eine Kehrseite: Wenn etwa ein Weg seitlich abfällt, ist es schwierig, geradeaus zu fahren. Wer schon einmal mit einem vollen Einkaufswagen einen Bürgersteig entlanggefahren ist, weiß, wie mühsam das ist: Der Wagen zieht zur Seite und man muss ständig mit Kraft gegensteuern.

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Genau so geht es Menschen, die mit einem manuellen Rollstuhl unterwegs sind: Sie müssen auf dem Bürgersteig ständig die Richtung korrigieren, um geradeaus zu fahren und nicht auf der Straße zu landen. Während die eine Hand das Gefährt beschleunigt, muss die andere bremsen und gegensteuern. Das ist nicht nur anstrengend, sondern belastet auch die Gelenke.

Reto Togni (l.) und Stefan Villiger in ihrer kleinen Werkstatt im GLC-Gebäude der ETH Zürich.
Reto Togni (l.) und Stefan Villiger in ihrer kleinen Werkstatt im GLC-Gebäude der ETH Zürich. (Bild: Reto Togni & Stefan Villiger / ETH Zürich)

Die Rückenlehne als Lenkrad

Das muss nicht sein, dachten sich Reto Togni und Stefan Villiger, beide wissenschaftliche Mitarbeiter am Laboratorium für Bewegungsbiomechanik der ETH Zürich. Sie entwickelten einen Rollstuhl mit beweglicher Rückenlehne. Diese ist direkt mit den Vorderrädern verbunden und steuert so das ganze Gefährt. Das alles geschieht rein mechanisch: Lehnt sich der oder die NutzerIn nach rechts, fährt der Rollstuhl nach rechts, neigt er sich nach links, fährt er nach links. "Das spart viel Energie und macht das Bremsen auf Bordsteinen und in Kurven überflüssig", sagt Togni.

Schneller mit weniger Energie

Wie viel weniger Kraft das Lenken mit der Rückenlehne erfordert, zeigen Tests in einer Tiefgarage, die Togni im Rahmen seiner Doktorarbeit an der ETH Zürich durchführte. Dazu fuhren 29 ProbandInnen sechsmal hintereinander einen Parcours: eine Gerade mit einer seitlichen Neigung von fünf Grad, 180-Grad-Kurven und eine Slalomstrecke. Zuerst fuhren die Testpersonen mit einem herkömmlichen Rollstuhl, dann mit dem Prototyp mit beweglicher Rückenlehne. Bei beiden Modellen zeichneten Sensoren in den großen Antriebsrädern auf, wie viel Kraft die ProbandInnen beim Steuern und Fahren brauchten.

"Schon nach dem ersten Durchgang war klar, dass die Steuerung über die Rückenlehne den Proband:innen viel weniger Kraft abverlangte", sagt Togni. Mitentwickler Villiger fuhr selbst mit und bestätigt: "Auf der abschüssigen Geraden musste ich mit dem Prototyp nicht einmal mit der Hand korrigieren. Und auch in der Kurve war das Vorwärtskommen viel einfacher. Mit dem herkömmlichen Rollstuhl war ich immer am Bremsen und gleichzeitig am Beschleunigen". Das zeigen auch die Auswertungen, wie folgende Grafik zeigt:

Deutlich weniger Energieaufwand mit der Steuerung per Rückenlehne (rechts): Mit dem normalen Rollstuhl (links) musste deutlich mehr gebremst werden (rot) und auch die Antriebsenergie war höher (grün).
Deutlich weniger Energieaufwand mit der Steuerung per Rückenlehne (rechts): Mit dem normalen Rollstuhl (links) musste deutlich mehr gebremst werden (rot) und auch die Antriebsenergie war höher (grün). (Bild: Reto Togni)

Obwohl die ProbandInnen mit den lehnengesteuerten Rollstühlen weniger Energie für die Fortbewegung aufwenden mussten, waren sie schneller unterwegs als die Probanden in herkömmlichen Rollstühlen. Das erstaunte selbst die Forschenden: "Normalerweise braucht man mehr Energie, je schneller man sich fortbewegt", sagt Togni.

Die Steuerung per Rückenlehne reduziert aber nicht nur den Kraftaufwand, sondern schont auch Schultern, Arme und Hände von RollstuhlfahrerInnen, die über die Jahre oft Schulterprobleme entwickeln. Es gibt aber noch weitere gesundheitliche Vorteile, so die beiden Forscher: Die sanften Rumpfbewegungen, die zum Lenken nötig sind, sollen die Durchblutung anregen und können Rückenschmerzen und Verdauungsbeschwerden lindern. Außerdem entlastet die Gewichtsverlagerung das Gesäß und könnte helfen, Druckstellen vorzubeugen.

Steuerung lässt sich ein- und ausschalten

Ein weiterer Vorteil ist, dass man einhändig fahren kann und die zweite Hand frei hat, um Gegenstände von einem Ort zum anderen zu transportieren - sei es ein Regenschirm, ein Handy oder eine Tasse Kaffee. Die neuartige Steuerung hat aber auch einen Nachteil: Das Drehen auf der Stelle und das Bewegen auf engem Raum ist nicht so einfach wie mit einem herkömmlichen Rollstuhl. Deshalb hat der Prototyp einen Hebel an der Seite, mit dem die Steuerung über die Rückenlehne ein- und ausgeschaltet werden kann. Der Rollstuhl lässt sich dann wie gewohnt über die großen Antriebsräder lenken.

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