Es ist Dampf unterm Kessel. Im internationalen Wettstreit um die genaueste Definition für das Kilogramm haben die Forscher der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) jetzt nicht nur das Rezept in der Tasche, sondern auch alle Zutaten beisammen: Sie haben eine komplexe Kette aus vielen Fertigungs- und Analyseschritten aufgebaut, um über das Zählen von Atomen in einer Siliziumkugel zwei Naturkonstanten genau festzulegen − die Avogadro-Konstante und das Planck’sche Wirkungsquantum. Dies sind die Eckpfeiler einer neuen Kilogramm-Definition. Die neuen Fertigkeiten und Messverfahren, die in den vergangenen Monaten und Jahren unter anderem auch im Rahmen des internationalen Avogadro-Projekts entwickelt wurden, müssen sich nun in der Praxis beweisen: Im März erhält die PTB einen Kristall aus hochreinem Silizium-28, aus dem zwei Kugeln gefertigt und anschließend analysiert werden. Die dabei ermittelten Werte für die Avogadro- und die Planck-Konstante dürften konkurrenzlos genau sein.
„Unser Ziel ist, dass die PTB die Realisierung des zukünftigen Kilogramms vollständig selbst beherrscht“, sagt Horst Bettin, Leiter des Kilogrammprojektes in der PTB. Dafür hat die PTB zielstrebig neue Verfahren entwickelt und bereits bekannte verbessert. Vor einigen Jahren hat man beispielsweise die ersten Siliziumkugeln für das Experiment beim damals weltweit einzigen Experten in Australien polieren lassen. Heute findet die komplette Kugelherstellung in der PTB statt und ist so exakt, dass die Abweichung von der idealen Kugelform deutlich weniger als 100 Nanometer beträgt. Mit dem Kugelinterferometer kann der gemittelte Durchmesser der Kugel bis auf drei Atomdurchmesser genau bestimmt werden, und ein UHV-Reflektometer ermittelt die Dicke von Oxidschichten auf der Kugeloberfläche bis hinunter zu einem Nanometer.
Tausende Zentrifugen im Einsatz
Doch Bettins Zuversicht gründet nicht nur auf Technik und den Fähigkeiten der PTB-Mitarbeiter, sondern auch auf der Reinheit des gelieferten Materials. Im Electrochemical Plant im russischen Zelenogorsk waren monatelang tausende Zentrifugen im Einsatz, um die mehr als 99,998-prozentige Isotopen-Reinheit des Silizium-28 zu ermöglichen. „Das war eine Meisterleistung an der Grenze des technisch Machbaren“, lobt Manfred Peters, ehemaliger Vizepräsident der PTB, der die komplexen Vertragsverhandlungen mit Russland führte und das Projekt mit Russland leitet. Auch die anschließende Reinigung des hoch explosiven, gasförmigen Silizium-Tetrafluorids (28SiF4) sowie seine Umwandlung in Silan (28SiH4) und anschließend in polykristallines Silizium war laut Peters „echte Pionierarbeit, die höchste Anerkennung verdient“. Der chemisch komplizierte und speziell für dieses Projekt entwickelte Prozess fand im Institut für die Chemie hochreiner Substanzen der Russischen Akademie der Wissenschaften in Nishniy Novgorod statt. Im Laufe der kommenden Monate wird noch ein weiterer Sechs-Kilogramm-Kristall geliefert. Aus dem russischen Ausgangsmaterial zieht das Leibniz-Institut für Kristallzüchtung in Berlin jeweils einen makellosen Einkristall, dessen innere Struktur völlig gleichmäßig und ohne Brüche ist. Beides, die Freiheit von Verunreinigungen und die gleichmäßige Struktur, sind Voraussetzungen für das Gelingen des Experiments. Am Ende wird die PTB nahezu perfektes Ausgangsmaterial für vier Kugeln zur Verfügung haben.
So rund wie nichts auf der Welt
Aus den bauchigen, zylinderförmigen Silizium-Einkristallen fertigt die PTB Kristallkugeln, die so rund sind wie sonst nichts auf der Welt. Jede Kugel für sich wird dann nach allen Regeln der Kunst gemessen. Das Ziel ist es, die Eigenschaften im Großen mit Eigenschaften im Kleinen zu verbinden, also die Verbindung zwischen der Masse der Kugel und der Masse eines Atoms herzustellen. Die Forscher messen also die Masse und das Volumen der 28Si-Kugel ebenso wie die Anordnung der Atome im Kristall und die Häufigkeiten der drei vorkommenden Siliziumisotope, woraus sich die molare Masse des verwendeten Siliziums ergibt. Sie wissen daher, wie viel Mol Silizium in ihrer Kugel stecken und auch wie viele Atome ein Mol ausmachen. Die Forscher haben somit die Avogadro-Konstante bestimmt. Ziel erreicht! Und da die Avogadro-Konstante über eine feste physikalische Relation auch mit der Planck-Konstante verknüpft ist, lassen sich beide auf einen Streich festlegen. Bereits jetzt verzählen sich die PTB-Wissenschaftler nur alle hundertmillionen Atome um zwei. Ziel ist es, sich bei hundertmillionen nur noch um ein Atom zu verzählen.
Die Masse des Urkilogramms hat sich geändert
Und wieso das alles? Weiß nicht ohnehin jeder Mensch, wie schwer ein Kilogramm ist? Zurzeit beziehen sich alle Masse-Messungen der Welt letztendlich auf einen kleinen Zylinder aus einer Platin-Iridium-Legierung, der sicher in einem Safe im Internationalen Büro für Maß und Gewicht in Sèvres bei Paris verwahrt wird: das Urkilogramm. Kopien des Urkilogramms gibt es in zahlreichen Ländern. Mit diesen Kopien und über weitere Transfernormale bringen wir Waagen bei, wie schwer ein Kilogramm ist. Doch physikalische und chemische Prozesse verändern Dinge mit der Zeit. Es gibt Hinweise, dass sich auch die Masse des Urkilogramms leicht geändert hat. Schlimmstenfalls könnte das Urkilogramm einmal zerstört oder gestohlen werden. Damit wäre die Definition ein für allemal verschwunden.
Neue Definitionen gesucht
Um dem Damoklesschwert der Vergänglichkeit zu entgehen, suchen Forscher weltweit nach einer neuen Definition. Die internationale Generalkonferenz für Maß und Gewicht hat sich darauf geeinigt, nicht nur das Kilogramm, sondern auch drei weitere physikalische Einheiten möglichst im Jahr 2018 über Naturkonstanten zu definieren. Also über physikalische Größen, deren Wert sich weder beeinflussen lässt noch räumlich oder zeitlich verändert. Diese Einheiten sind das Ampere, das Mol und das Kelvin. Für die Definition des Kilogramms würde die Avogadro-Konstante im Grunde ausreichen, aber die Masse-Metrologen denken auch an ihre „elektrischen Kollegen“: Die wollen die Einheit der elektrischen Stromstärke, das Ampere, auch über eine Konstante definieren, nämlich die Ladung des Elektrons. Und wenn ihnen jetzt die Masse-Kollegen die Planck-Konstante dazugeben, würden sich die Einheiten für Spannung und Widerstand einfach daraus herleiten lassen. Da beide − Avogadro- und Planck-Konstante − miteinander verknüpft sind, hat man sich international darauf verständigt, das Kilogramm ebenfalls über diese Konstante zu definieren, auch wenn das weniger anschaulich ist. An der Weitergabe der Einheit wird das nichts ändern: Auch in Zukunft werden wir unseren Waagen mithilfe von Gewichtsstücken − möglicherweise auch in Form von Siliziumkugeln − sagen, wie schwer ein Kilogramm ist. Aber diese Gewichtsstücke können reproduziert werden. Denn die Mutter aller Kilogrammstücke wird kein physisches und damit zerstörbares Objekt mehr sein, sondern eine definierende Konstante in einer mathematischen Formel, die allen Veränderungen trotzt.
Silizium-28-Kugel oder Wattwaage
Genau genommen kann es im Wettstreit um die Kilogramm-Neudefinition übrigens keinen wirklichen Gewinner geben, denn das Kilogramm wird erst dann neu definiert, wenn mindestens zwei wissenschaftliche Ansätze und die Experimente dreier Forschergruppen zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen: nämlich die Planck-Konstante mit ausreichender Genauigkeit festzulegen. Die Experimente mit der Silizium-28-Kugel sind nur ein möglicher Weg, um die Planck-Konstante zu bestimmen − es ist der Weg, den die Wissenschaftler der PTB gehen. Mehrere andere Institute, insbesondere in den USA, Kanada, Frankreich und der Schweiz, setzen auf die Wattwaage. Sie ermöglicht, die Gewichtskraft einer Masse durch eine elektromagnetische Kraft zu kompensieren. Angesichts der Fortschritte bei beiden Ansätzen sollte der Neudefinition des Kilogramms Ende 2018 nichts im Wege stehen. if/ptb