Niemand möchte sich innerhalb weniger Minuten in einen Achtzigjährigen verwandeln. Thomas Breuer, der Geschäftsführer des Geretsrieder Unternehmens BF-Maschinen versucht es trotzdem. Deshalb streift ihm Wolfgang Moll nun Fußmanschetten mit Gewichten um die Fesseln, damit Breuer bei jedem Schritt die Beine mühsam nach vorne stemmen muss. Knie- und Ellenbogenschoner versteifen die Gelenke.Die Weste, die Moll dem Alternswilligen überwirft, soll auf Rücken- und Bauchmuskeln drücken, das Gewicht eines ganzen Lebens simulieren, wenn am Lebensabend die Muskeln schwinden. Eine Halsmanschette versteift mögliche Halsdrehungen, zwei Handgelenksgewichte lassen die Armmuskeln schneller ermüden.
Damit Breuers Hände weniger fühlen können, bekommt er erst dünne Latexhandschuhe zum Anziehen und danach fingerfreie Überhandschuhe. Dann schwinden Breuer die Sinne: Weil mit zunehmendem Alter Gehör und Augen nachlassen, hüllen Ohrschützer ihn in eine Wolke der gedämpften Töne und eine Brille verengt und trübt sein Sichtfeld. Fertig – der gut 50-jährige Breuer ist nun um 30 Jahre gealtert.
Wolfgang Moll, der Thomas Breuer in einen Achtzigjährigen verwandelt hat, ist der Erfinder von „Gert“, einem gerontologischen Testanzug, der für jüngere Menschen die typischen Einschränkungen Älterer erlebbar macht: den schlurfenden Gang, das gefühlsärmere Greifvermögen, die gesteigerte mentale Belastung und die Bewegungsunsicherheit.
Mit Gert ist er in eine Marktlücke gestoßen: Bereits vor sechs Jahren schätzte die Bertelsmann Stiftung, dass die Anzahl der über Achtzigjährigen im Jahr 2020 auf fast sechs Millionen im Jahr 2020 ansteigen wird. Erschwingliche Testanzüge in der von Moll gewünschten Qualität gab es bisher nicht. Also konstruierte er Gert nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten und unterstützt mit dem Anzug Unternehmen beim Zurechtkommen mit älteren Belegschaften.
Der betagte Senior
Thomas Breuer tappst in steifen Schritten vorsichtig durch seine Werkshalle – und fühlt sich, als ob er sich unter Wasser befände. Seine eigene Stimme hört er nur verzerrt. „Eine Riesenlast drückt mich herunter. Alles fühlt sich extrem schwer an, den Oberkörper drückt es richtig weg.“ Um etwas zu sehen, muss er seinen Kopf drehen.
„Was glauben Sie, können Sie damit arbeiten?“, rufe ich ihm ins Ohr, weil er eine durchschnittliche Lautstärke nicht mehr so gut versteht. Arbeiten? Breuer ist froh, wenn er einmal die Werkshalle hin und zurück bewältigen kann. Auf dem Weg an seinen Maschinen vorbei kann er die Stahlteile zwar sehen, aber die Farben lassen sich nur schlecht unterscheiden. „Es ist alles so gleißend hell“, sagt er beim Blick auf die sonnendurchflutete Fensterfront. Unsicher fühlt er sich beim Gehen, auch, weil nicht erkennt, ob etwas vor ihm auf dem Boden liegt. Deshalb muss er erst schauen, bevor er einen Schritt wagt.
„Im Fertigungsprozess wäre er in diesem Alter ja nicht mehr aktiv“, sagt Wolfgang Moll. „Allerdings wirkt der Effekt durch die unmittelbare Veränderung drastischer, weil der Mensch beim natürlichen Altern über Kompensationsmechanismen verfügt. Beispielsweise geht man gerne an einer Wand entlang, um das Unbekannte auf eine Seite einzugrenzen.“Die Blendempfindlichkeit sei allerdings typisch. „Ältere bevorzugen geschlossene Gardinen. Meine Mutter sitzt gerne in halbdunklen Räumen“, schildert Moll. „Das gleichmäßige Licht ist für Ältere sehr viel angenehmer.“
Breuers Versuch, wie ein Monteur in die Knie zu gehen, schlägt fast fehl. Wegen der Manschetten wackeln die Beine und er muss schauen, dass er sich den Kopf nirgends anschlägt. Das Greifen nach oben ist anstrengend. Nach der Runde ist Breuer außer Atem, nass geschwitzt und heilfroh, als Moll ihn vom Alter erlöst und die Manschetten wieder abnimmt. Dass Achtzigjährige noch Monteursarbeit verrichten und in Maschinen kriechen, ist keine gute Idee.
Körperliche Fitness erhalten
Demografischer Wandel wird dazu führen, dass das Durchschnittsalter der Belegschaften immer weiter ansteigt. Dabei jammern die Arbeitgeber bereits jetzt über den Fachkräftemangel. Um konstruktiv mit der Veränderung umzugehen, setzt deshalb auch Daimler auf die erlebbaren Veränderungen des gerontologischen Testanzugs: „Mit dem Alterungsanzug Gert verfolgt Daimler verschiedene Zielsetzungen: Zum einen das Verständnis für die Situation Älterer zu fördern und dadurch die Zusammenarbeit zwischen Alt und Jung zu unterstützen.
Andererseits verdeutlicht der Alterungsanzug gerade bei jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mögliche körperliche Alterseffekte und stärkt somit die Eigenverantwortung zum Erhalt der körperlichen Fitness“, sagt Svenja Wilke aus der Corporate-Communications-Abteilung. „Denn Alter kann durch das individuelle Verhalten positiv gestaltet werden. Mit vielfältigen Angeboten, zum Beispiel zur betrieblichen Gesundheitsprävention oder Weiterbildungsmöglichkeiten, unterstützt Daimler die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, damit sie ihre Leistungsfähigkeiten im Laufe ihres Berufslebens erhalten und ausbauen können.“
Der Soeben-Rentner
Anfang 70. Wolfgang Kräußlich, Chefredakteur der ke NEXT, besitzt eine große und kräftige Statur, viele Muskeln stützen sein Skelett. Deshalb federt sein Schritt, obwohl er im Alterssimulationsanzug steckt. Allerdings ist er auch gute zehn Jahre jünger als der Geschäftsführer Thomas Breuer. Von einem Achtzigjährigen wird hoffentlich auch in Zukunft niemand erwarten, dass er noch arbeitet. Von einem Siebzigjährigen? Vielleicht!
„Ich empfinde das Gehen nicht als zu anstrengend“, sagt Kräußlich. „Bücken Sie sich mal und schieben die Hände in die Maschine“, fordert Breuer ihn auf. „Aber passen Sie auf, dass Sie sich nicht den Kopf stoßen.“ Mit einem gewaltigen Stöhnen fällt Kräußlich auf die Knie. „Das normale Aufstehen geht schon. Aber man merkt, dass es geschickter ist, wenn man sich hochschiebt. Es funktioniert schon alles, aber es geht alles etwas schwerer“, konstatiert der Journalist, der gerne ein Päuschen einlegen würde. „Das erklärt, warum ältere Arbeitnehmer bei der Pausengestaltung gerne etwas mehr Flexibiltät hätten und die Pausen gerne nach dem eigenen Rhythmus gestalten möchten“, erläutert Moll.
Ältere ermüden schneller. Auch, weil sich die Muskeln ab dem 30. Lebensjahr etwa alle zehn Jahre um fünf Prozent abbauen. Dadurch sinkt bei Bewegungen die Ausdauer, sofern man nicht mit gezieltem Muskelaufbau dagegen arbeitet. Ein Problem bleibt jedoch: Die Politik hat das Renteneintrittsalter bereits erhöht und wenn Fachkräfte immer knapper werden, müssen die Unternehmen zusehen, wie sie mit den vorhandenen Mitarbeitern und deren Gesundheitszustand die Arbeit stemmen.
Die Gerade-noch-Berufstätige
Mitte 60. Als alles sitzt, flitze ich los durch die Werkshalle – für mein neues Alter in einem Turbotempo. Das Gewicht und die leicht steifen Bewegungen erinnern mich an die Müdigkeit nach einer langen Bergwanderung. Die anderen drücken mir einen Besen in die Hand, mit dem ich die Halle sauber kehren soll.
Das gelingt mir, ohne dass ich ins Straucheln gerate. Aber nur deshalb, weil ich blind weiß, wohin ich trete und ich das Gleichgewicht halte, indem ich mich auf die eigene Mitte konzentriere. Denn richtig sehen kann ich nichts. Hier zahlen sich die regelmäßigen Übungen auf dem Trimm-dich-Pfad aus, der mit allen Fisimatenten der 70er-Jahre aufwartet: Ringe, an denen man pendeln muss, Baumstämme, die man per Hockwende überwinden soll und Schwebebalken zum Balancieren vor- und rückwärts.
Dennoch überrascht mich ein Mitarbeiter, der plötzlich an mir seitwärts vorbeizieht. Ach ja, denke ich mir, eigentlich ist es doch ganz gut, wenn im Alter alles ein bisschen ruhiger und in bekannten Bahnen verläuft, auch wenn ich mich trotzdem noch leistungsfähig fühle. Vor der obligatorischen Maschine habe ich ein bisschen Angst, weil ich mir den Kopf stoßen könnte.
Erfahrungsschatz macht Alter wett
Wie ich mich auf ungefährliche Weise bewegen kann, muss ich nach meinem Gedächtnis konstruieren oder in Zeitlupe hochkonzentriert eruieren, wo Stangen den Durchgang behindern. Die Leiter nebenan ist jedenfalls kein Problem, ruckzuck steige ich die Stufen rauf. Dann drückt mir ein junger Monteur eine Winkelschraube in die Hand, die ich eindrehen soll.
Weil ich mit der Brille meine Umwelt nur in Gelbtönen und verschwommen sehe, versuche ich das falsche Ende ins Gewinde zu bringen. „Nein, umdrehen“, kommandiert der Jungspund neben mir. „Das klappt nicht“, rufen die anderen entmutigend von unten. Aber doch, ich will es schaffen – auch wenn das mit den Handschuhen gar nicht so einfach ist. Ich bekomme es auch hin und ärgere mich über die Ungeduld der anderen. Blöd bin ich ja nicht.
An dieser Stelle merke ich deutlich, dass es mir schwerfällt, neue Aufgaben zügig zu erledigen. Das schwächere Augenlicht muss ich eben mit Erfahrung wettmachen. Routineaufgaben wären besser als neue Projekte, ein Arbeiten im Akkord nicht machbar. Aber Schrauben, die ich kenne, in Gewinde zu drehen, deren Platz ich weiß, das wäre kein Problem.
Einige Industriebetriebe haben längst erkannt, dass ältere Mitarbeiter nicht weniger leisten, sondern nur anders. Sie passen ihre Arbeitsabläufe entsprechend an und geben älteren Kollegen die Tätigkeiten, die viel Erfahrung voraussetzen. So sieht man es auch bei Daimler: „Veränderungen bei physischen Fähigkeiten gehen nicht mit dem Abbau kognitiver Kompetenzen einher und können oftmals mit dem zunehmenden Erfahrungswissen älterer Mitarbeiter kompensiert werden,“ sagt Svenja Wilke.
Bleibt die Frage, ob man in Zukunft Maschinen zunehmend für ältere Bediener konstruieren wird, beispielsweise mit flexibler Beleuchtung und wahlweise größeren Displays. Das könnte eine Nische sein, mit der die Branche zeigt, dass sie auch hier die Nase vorne hat.
Autorin Angela Unger, Redaktion
ke NEXT hakt nach: Vier Fragen an Thomas Breuer, Geschäftsführer von BF-Maschinen
Herr Breuer, war für Sie der Gedanke, dass Maschinen so gebaut sein müssen, dass auch Ältere damit gut zurechtkommen, bisher ein Aspekt bei der Konstruktion von Ihren Maschinen?
Eher noch nicht, aber wir haben eine gewisse Vorgabe, ergonomische Maschinen zu bauen. Die Ergonomie ist nicht an irgendeinem Alter festgemacht, sondern da gibt es ganz klare Richtlinien, Einlegehöhe, Einlegetiefe und diese Dinge, die müssen wir beachten. Aber mit dem Altersprozess setzen wir uns schon auseinander und zwar genau in die umgekehrte Richtung. Man schreit ja immer: dieser Fachkräftemangel. Der existiert auch – da brauchen wir nicht mehr rumdiskutieren. Deshalb setzen wir verstärkt auf Ausbildung. Parallel müssen wir genauso verstärkt darauf setzen, unsere alten Mitarbeiter noch zu aktivieren und nicht schon wie in der Vergangenheit ab 55 in den Vorruhestand zu schicken.
Für Sie ist dieser Aspekt, im Team Verständnis füreinander zu entwickeln, auch ein wichtiger Punkt von Gert?
Ganz genau. Darum habe ich ja gleich gesagt: Das möchte ich selbst fühlen. Um mich in die Lage des anderen zu versetzen. Auch die Industrie ist daran interessiert, Mitarbeiter mit Know-how zu halten – und zwar möglichst lange. Den Audi R 8 bauen beispielsweise nur Mitarbeiter über 40. Also, da kommen gar keine Jungen hin. Weil die sagen: 70 Prozent an dem Auto ist Handarbeit. Diese wird von erfahrenen Mitarbeitern erledigt. Das heißt, diese Industrie denkt um. Es tun sich auch andere Märkte für Ältere auf.
Ist es für Sie vorstellbar, dass sich die Bedürfnisse Älterer irgendwann in der Konstruktion niederschlagen?
Ich glaube schon, dass mittel- bis langfristig sowas in die Lastenhefte hineinkommen wird. Weil sich meine Kunden aus der Automobilindustrie damit intensiv beschäftigen und das für zukünftige Entwicklungen von Fertigungslinien im Hinterkopf haben. Was wichtig ist: Man merkt heute, dass die Ergonomierichtlinien nicht mehr ausreichen, weil mit zunehmendem Alter die Bandbreite auseinandergeht. Aber auch die Menschen werden von ihren Gesundheitszustand unterschiedlicher. Das wird sicherlich ein wichtiges Thema werden.
Gibt es noch weitere Vorteile für Sie?
Ja, die Unfallprophylaxe. Im Alter verändern sich ja auch unsere Sinne. Bei Signalleuchten kann man beispielsweise nicht davon ausgehen, dass der Ältere den gelben Schein auf der weißen Wand sieht, weil die Linse sich eintrübt und der Weiß-gelb-Kontrast abnimmt. Also weiß ich aus der Erfahrung im Alterssimulationsanzug: Die Lampe soll ins primäre Gesichtsfeld, wo man auch direkt das Leuchten sehen kann und nicht nur den Lichtschein.
Das Interview führte Wolfgang Kräußlich