Ein wesentlicher Grundgedanke der Europäischen Gemeinschaft ist die Schaffung eines einheitlichen Marktes mit freiem Warenverkehr. Dabei steht neben wirtschaftlichen Interessen der Schutz der Gesundheit ihrer Bürger sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld im Fokus. Zu diesem Zweck hat die EU verschiedene Richtlinien und Verordnungen verabschiedet, die die grundsätzlichen Ziele und Anforderungen eines freien Marktes für sichere Produkte definieren, ohne die Hersteller mehr als notwendig einzuschränken. Wesentliche Regelungen im Bereich der Maschinensicherheit sind die Maschinenrichtlinie (MRL), die Niederspannungsrichtlinie, die EMV-Richtlinie und die ATEX-Richtlinie.
Insgesamt sehr gute Erfahrungen mit der neuen Maschinenrichtlinie
Seit dem 29. Dezember 2009 muss die neue Maschinenrichtlinie 2006/42/EG von den Herstellern über das jeweilige nationale Recht angewendet werden. Basis in Deutschland ist das Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) in Verbindung mit der Maschinenverordnung – 9. GPSGV. „Insgesamt gesehen haben wir mit der neuen Maschinenrichtlinie sehr gute Erfahrungen gemacht“, sagt Thomas Kraus vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). „Als Binnenmarktrichtlinie erlaubt sie die Vermarktung von Produkten im gesamten europäischen Wirtschaftsraum – und das sind ja nicht nur die 28 Mitgliedsstaaten der EU, sondern auch die restlichen EFTA-Staaten Liechtenstein, Island, Norwegen sowie die Schweiz und die Türkei.“ Aber auch in anderen Regionen der Welt, in denen Produktsicherheitsvorschriften nur rudimentär oder sehr fragmentarisch vorhanden sind, einigen sich inzwischen die Vertragsparteien auf die CE-Kennzeichnung – und damit auf die Einhaltung der europäischen Rechtsvorschriften. „In der EU haben wir damit ein sehr hohes Schutz- und Sicherheitsniveau – auch in Verbindung mit den weiteren Vorschriften bezüglich der Energieeffizienz, der Stoffeverwendung (ROHS-Richtlinie und REACH-Verordnung) sowie die EMV-Richtlinie“, so Kraus. Da die Bestimmungen der Maschinenrichtlinie an vielen Stellen sehr offen formuliert sind, ergeben sich für die Praxis Gestaltungsspielräume. Zum Beispiel können zwischen Kunden und Hersteller individuelle vertragliche Vereinbarungen getroffen werden, die zwar im Einklang mit den Bestimmungen der Maschinenrichtlinie stehen müssen, diese aber gegebenenfalls konkretisieren und ergänzen.
Mehr Rechtssicherheit, aber noch offene Praxisfragen
„Die Maschinenrichtlinie hat eine gute Transparenz in den Märkten geschaffen“, bestätigt Johannes Toloczyki, Leiter Feldservice Werkzeugmaschinen & Sicherheitsdienstleistungen bei Bosch Rexroth. „Durch klare Definitionen werden Unklarheiten und Missverständnisse vermieden. Nehmen wir das Beispiel Retrofit: Immer mehr Unternehmen modernisieren ihre Maschinen und Anlagen nicht mehr nur, um die Verfügbarkeit und Servicefähigkeit zu erhalten, sondern auch um die Maschinensicherheit zu erhöhen. Die Maschinenrichtlinie hat bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit der sicherheitsrelevanten Systeme das Vorgehen hinsichtlich Systematik und Dokumentation verbindlich gemacht. Damit haben Maschinenbetreiber auch einen quantitativen Nachweis für die Einhaltung der Vorschriften und die notwendige Rechtssicherheit“, erklärt Johannes Toloczyki.
„Nach einer anfänglichen Phase der Unsicherheit haben sich viele Maschinenbauer mit der neuen Maschinenrichtlinie arrangiert und auch deren Neuerungen wie die Risikobeurteilung, die Anforderungen an die Dokumentation und an geeignete Sicherheitssysteme sowie die Konformitätsbewertung akzeptiert“, bestätigt auch Mario Epp, Branchenmanager bei Hima Paul Hildebrandt. „Schwieriger war eher der Umgang mit Normen wie der DIN EN ISO 13849. Sie ist in ihrer Anwendung aber sehr praxisbezogen, was dazu führte, dass dadurch das Errechnen bestimmter sicherheitstechnischer Kennwerte vereinfacht wird.“ Jeder Maschinenhersteller hat nach den allgemeinen Grundsätzen der neuen Maschinenrichtlinie bereits bei der Planung und Konstruktion sämtliche Gefährdungen über alle Lebenszyklen der Maschine zu ermitteln und vorrangig durch konstruktive Maßnahmen zu beseitigen. Nur wenn dies nicht möglich ist, darf versucht werden, über eine Minimierung der Gefährdungen beziehungsweise der Schutzmaßnahmen das Risiko weiter zu verringern.
Risikobeurteilung besser durch erfahrene Mitarbeiter
Eine realistische Risikoeinschätzung einer Gefahrenstelle muss dabei immer unter Berücksichtigung des Schadensausmaßes und der Eintrittswahrscheinlichkeit erfolgen. „Deshalb sollte die Risikobeurteilung immer von Personen durchgeführt und dokumentiert werden, die mit dem Prozess oder der Maschine vertraut sind und die zudem Erfahrungen bei der Erstellung von Risikobeurteilungen haben. Nur so können Fehler zum Beispiel durch eine falsche Einschätzung einer Gefahrstelle vermieden werden“, sagt Sandy Meininghaus, Safety-Manager bei Pilz. Die Risikobeurteilung ist für den Konstrukteur ein iterativer Prozess. Angefangen mit der Festlegung der Grenzen der Maschine über die Ermittlung der Gefährdungen bis hin zu der Beantwortung der Frage, ob eine hinreichende Sicherheit erreicht ist. Die technischen Unterlagen müssen dazu Angaben zum angewandten Verfahren, zu den ergriffenen Schutzmaßnahmen zur Gefahrenabwehr und zur Risikominimierung sowie gegebenenfalls Angaben zu Restrisiken enthalten. „Wer dies mit eigenen Mitteln erledigen will, hat die Schwierigkeit, dass die Maschinenrichtlinie hierzu lediglich grundsätzliche Vorgaben enthält. Die harmonisierte Norm EN ISO 12100 konkretisiert zwar diese gesetzlichen Anforderungen, überlässt aber die konkrete praktische Umsetzung dem Anwender. Diese empfinden die Umsetzung der nicht immer trivialen Anforderungen häufig als lästigen Bürokratismus, vergessen aber dabei, dass eine ordentlich dokumentierte Risikobeurteilung den Hersteller im Schadensfall entlasten kann“, sagt Hans-J. Ostermann, Autor der maschinenrichtlinie.de. Es biete sich daher an, die Ergebnisse der Risikobeurteilung in einer übersichtlichen Tabellenform in der Systematik des Anhang 1 der Maschinenrichtlinie zu erfassen. Dies werde von vielen Unternehmen häufig mit selbsterstellten Excel-Tabellen auch schon so durchgeführt.
Die meisten Maschinenbauer nutzen die EN ISO 13849
Eine gute Alternative zur Durchführung und Dokumentation der Risikobeurteilung bietet das auf Basis einer frei editierbaren Excel-Tabelle entwickelte Risk Assessment Tool (MBT-RAT) an, bei dem viele Schritte schon für den Anwender automatisiert wurden. Das Tool besitzt außerdem eine Schnittstelle zur IFA-Steuerungssoftware für die Umsetzung der EN ISO 13849 Sistema und deren Risikographen und wird kostenlos von der MBT Mechtersheimer GbR auf der Website www.maschinenrichtlinie.de zur Verfügung gestellt. „Der größte Teil der Maschinenbauer nutzt nach unserer Erfahrung die EN ISO 13849 zur Umsetzung der durch die MRL geforderten Sicherheitsprinzipien. Deshalb wird der Risikograph dieser Norm überwiegend eingesetzt“, sagt Mario Epp. „Doch der Risikograph ist ein relativ grobes Instrument zur Abschätzung eines erforderlichen Performance Levels einer Sicherheitsfunktion. Es bedarf einer gewissen Erfahrung, um hier nicht über das Ziel hinaus zu schießen oder sich Gefährdungen nicht schön zu rechnen. Um dies zu vermeiden, bietet Hima ein Functional Safety Consulting als Serviceleistung an.“ Und wer es online mag, kann sich an Bosch Rexroth wenden. Das Unternehmen entwickelte ein Online-Tool für die Risikobeurteilung, für das Sicherheitskonzept und die Beurteilung der EN ISO 13849 selbst. Durch die einfache Dialogführung ist das Tool prozesssicher. Eine Multi-User-Schnittstelle ermöglicht das gleichzeitige Bearbeiten durch mehrere Nutzer. Über die Rollenverteilungen wird das Vier-Augenprinzip eingehalten.
Unvollständige Maschinen
„Es gibt in der neuen Maschinenrichtlinie eine große Anzahl an Verbesserungen, die unvollständige Maschinen betreffen“, erklärt Sandy Meininghaus. Unvollständige Maschinen sind beispielsweise einzelne Antriebssysteme wie Hydraulikaggregate, bestehend aus Behälter, Motor, Pumpe, hydraulischer Steuerung und gegebenenfalls Speicher. In der MRL werden eindeutige Vorgaben an die mitzuliefernde Dokumentation definiert. Ein Hersteller einer unvollständigen Maschine ist aufgrund der Maschinenrichtlinie dazu verpflichtet, neben der Einbauerklärung auch eine Montageanleitung zu erstellen. In der Montageanleitung muss aufgeführt sein, welche Bedingungen für einen sicheren Betrieb der unvollständigen Maschine erfüllt sein müssen. Zusätzlich müssen Angaben über die grundlegenden Anforderungen der Richtlinie gemacht werden, die zur Anwendung kommen und die erfüllt sind. „Nur so liefert der Hersteller alle erforderlichen Informationen für die sichere Integration der unvollständigen Maschine aus. Der Hersteller der Gesamtanlage kann, basierend auf den Vorgaben, damit eine einfache und rechtssichere Integration durchführen“, sagt Meininghaus. Auch derjenige, der eine Maschine herstellt, um diese für die eigene Verwendung in Betrieb zu nehmen, ist Hersteller im Sinne der Maschinenrichtlinie. Er hat damit alle Verpflichtungen zu erfüllen, die auch ein klassischer Hersteller zu erfüllen hat. In der Praxis bleiben aber viele Fragen offen, die von den Gesetzen aufgeworfen werden. Deshalb hat die EU einen Leitfaden zur Anwendung der Maschinenrichtlinie herausgegeben. Im Abschnitt „New and used Machinery” beschreibt sie den Begriff der wesentlichen Veränderung als substanzielle Modifikation, die durch den Umbau einer Maschine entstanden ist und die dann die Durchführung des kompletten Konformitätsbewertungsverfahrens erfordern. Das Bundesarbeitsministerium hat hierzu in Zusammenarbeit mit den Ländern ein Interpretationspapier herausgegeben. Damit können Modernisierer und Umbauer die Veränderung einer Maschine aus rechtlicher Sicht bewerten.
Weiterhin Informationsbedarf bei Maschinenbauern
„Unsere Erfahrung zeigt, dass sich ein Großteil der Maschinenhersteller den Pflichten und Verantwortungen, die sich aus der Maschinenrichtlinie ergeben, leider nicht in vollem Umfang bewusst ist“, sagt Meininghaus. „Mit Sicherheit bedarf es eines gewissen Aufwandes, um die erforderlichen Schritte und Maßnahmen zur Einhaltung der Mindestanforderungen zu definieren und die entsprechenden Dokumente zu erstellen. Um so wichtiger ist es, dass der verantwortliche Personenkreis zur Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens über entsprechende Kenntnisse verfügt.“ Pilz unterstützt die Hersteller mit der sicherheitstechnischen Prüfung, angefangen von der Validierung bis hin zur Ausstellung der Konformitätserklärung als Bevollmächtigter. Zudem gibt es auch Schulungen, mit denen Maschinenbauingenieure entsprechende Kenntnisse als Zertifizierungsexperte im Rahmen der Qualifikation zum CMSE (Certified Machinery Safety Expert) erwerben können. Das Ausbildungsprogramm greift komplexe technische Fragestellungen auf und vermittelt die notwendigen Inhalte über den gesamten Lebenszyklus einer Maschine – von der Gesetzgebung und Normenwelt über die Sicherheitstechnik bis hin zu einer genauen Betrachtung der unterschiedlichen Bereiche der funktionalen Sicherheit.
Wesentliche Herausforderung: sich mit den Normen vertraut machen
Für Anlagenbetreiber und Maschinenbauer bietet Bosch Rexroth ein Projektmanagement, Anlagenbegehungen, Risikobeurteilungen und die Erstellung von Sicherheitskonzepten, Hard- und Softwaredesign, Installation und Inbetriebnahme sowie die Beurteilung der funktionalen Sicherheit und die Bewertung der CE-Konformität an. „Je nach Größe des Unternehmens, ist die Maschinenrichtlinie und deren Status als gesetzliche Anforderung in Europa bekannt. Das heißt, in der Regel haben die großen Maschinenhersteller in ihrer Organisation die Verantwortlichkeiten implementiert“, erklärt auch Hans-Jörg Stubenrauch, Manager Product Marketing Service bei Sick. „Ich denke, die wesentliche Herausforderung für den Maschinenbauer liegt nun darin, sich mit den neuen Werkzeugen, sprich Normen, für einen regelkonformen Maschinenbau vertraut zu machen. Das Gute daran ist die Tatsache, dass die neuen Normen aufgrund ihrer höheren Flexibilität dem Maschinenbauer auch neue Gestaltungsmöglichkeiten für einen sicheren Maschinenbau geben.“
Dankbar für Unterstützung
Allerdings seien viele kleine Betriebe auch dankbar, wenn sie Unterstützung durch Experten erhalten, beispielsweise bei der Risikobeurteilung und der bereitzustellenden Dokumentation für die EG-Konformitätserklärung, so Stubenrauch. Sick habe sich seit vielen Jahren darauf eingestellt und biete verschiedenste Unterstützungen und Leistungen an. Diese Themen sind insbesondere bei den regelmäßig wiederkehrenden Inspektionen, die Sick als akkreditierte Prüfstelle durchführt, von Bedeutung. Von den jährlich etwa 20.000 inspizierten Maschinen bekam vor fünf Jahren nur die Hälfte ein Prüfsiegel ohne jegliche Beanstandung. Die andere Hälfte erhielt entweder nur ein Prüfsiegel mit Auflagen oder gar kein Prüfsiegel. Bis heute hat sich der Anteil der Inspektionen ohne Beanstandung sehr positiv auf über 70 Prozent entwickelt. Gleichzeitig bietet das Unternehmen den „Leitfaden Sichere Maschinen“ an, der ein gut handhabbares Kompendium und Arbeitsmittel für Maschinenkonstrukteure ist. „Die Anzahl der bereits abgegebenen Leitfäden lässt vermuten, dass dieses Werk auf den Tischen der meisten Konstrukteure liegt“, erklärt Stubenrauch. Dafür bietet Sick mit dem TÜV und Bosch Rexroth auch seit einigen Jahren das Training zum „Zertifizierten Experten für funktionale Sicherheit“ an.
bf/fa
Hintergrundinfo: Zwei Normen, ein Ziel
Konformität mit der Maschinenrichtlinie und somit Exportfähigkeit und Haftungssicherheit erreichen Hersteller durch die Anwendung der harmonisierten Normen EN ISO 13849 oder EN IEC 62061. Während die EN IEC 62061 die funktionale Sicherheit sicherheitsbezogener elektrischer, elektronischer und programmierbarer elektronischer Steuerungssysteme beschreibt, betrachtet die EN ISO 13849-1 sicherheitsbezogene Teile von Steuerungen zusätzlich unter den Aspekten der mechanischen, pneumatischen und hydraulischen Sicherheit. Die beiden Steuerungsgrundnormen überlappen sich und können für elektrische/elektronische Steuerungskomponenten alternativ angewendet werden. Beide Normen haben das gleiche Ziel und führen zu vergleichbaren Ergebnissen, unterscheiden sich aber in der Methodik. Die ISO-Norm bietet für den mittelständischen Maschinenbau den pragmatischeren Ansatz, aber in manchen Anwendungsfällen ist die Umsetzung schwierig. Bei umfangreicheren Funktionen wäre die IEC-Norm eine bessere Hilfe, aber das Einarbeiten in die Methoden gestaltet sich für den Anwender recht komplex. Dazu kommen zum Teil widersprüchliche Aussagen in den beiden Parallelnormen. Aktuell gibt es daher Überlegungen die Normen ISO 13849 und IEC 62061 zusammenzuführen, um praxisorientierte Lösungen für die Funktionale Sicherheit zu erreichen.
„Die unter der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG harmonisierten Normen fordern Bewertungen und Berechnungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eines gefahrbringenden Ausfalls und hinsichtlich systematischer Aspekte der Sicherheitsfunktionen einer Maschine“, sagt Birgit Sellmaier, Referentin für die Themen Steuerungstechnik und Einheitsblatt beim VDMA. Diese Bewertungen und Berechnungen muss der Maschinenhersteller durchführen und nachweislich dokumentieren. Die relevanten Daten der in der Maschine eingesetzten sicherheitsbezogenen Geräte werden dazu von den Geräteherstellern geliefert. Die sicherheitstechnischen Berechnungen können mit Hilfe von Berechnungstools durchgeführt werden, deren standardisierte Übergabe der Informationen im VDMA-Einheitsblatt 66413 (Funktionale Sicherheit) spezifiziert ist, sagt Sellmaier.