Hundert Mal dünner als ein Haar – und damit für das menschliche Auge unsichtbar – ist das Mikrovehikel, das Forscher vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart entwickelten. Es besteht aus einem Kopf und einem korkenzieherförmigen, etwa zwei Millionstel Meter langen Anhang. Sein Hauptbestandteil ist Siliziumdioxid, es ist jedoch außerdem mit einer dünnen Nickelschicht versehen. Diese ermöglicht es später, die Konstruktion mittels eines von außen angelegten Magnetfelds in Rotation zu versetzen.
In Flüssigkeiten bewegt sich das Vehikel sofort, als würde es von einer Schiffschraube angetrieben. Allerdings würde die Antriebskraft des Mikropropellers allein noch nicht ausreichen, ihn auch durch eine zähe Schleimhaut im menschlichen Körper wie diejenige des Magens zu befördern. Diese leistet aufgrund ihres gelartigen Aufbaus schlicht zu viel Widerstand.
Magenbakterium Helicobacter pylori
An dieser Stelle brachten die Forscher die Chemie ins Spiel, die sie sich bei dem Magenbakterium Helicobacter pylori abgeschaut hatten. Die Mikrobe ist nämlich sehr wohl in der Lage, die Magenschleimhaut zu durchschwimmen – und bis an die Magenwand zu gelangen. Das Bakterium setzt dazu ein Enzym namens Urease frei. Dieses zerlegt den in der Magenflüssigkeit vorhandenen Harnstoff. Dabei wird unter anderem Ammoniak freigesetzt – eine basische Substanz, die den pH-Wert im ansonsten sauren Milieu des Magens lokal in die Höhe treibt. Weil das gelartige Netzwerk aus einem bestimmten Typ von Mucinen, aus dem die Magenschleimhaut aufgebaut ist, oberhalb eines pH-Wertes von fünf zunehmend zusammenbricht, verflüssigt das Bakterium auf die Art die Schleimhaut in seiner direkten Umgebung und schwimmt durch sie hindurch.
Mitten durch die Magenschleimhaut
Die Forscher in Stuttgart statteten ihren Mikropropeller mit derselben schleimlösenden Fähigkeit aus, indem sie ihn mit Urease beschichteten. Den derart präparierten Schwimmer testeten sie dann in Experimenten an der Magenschleimhaut von Schweinen, bei denen sie von Kollegen der Technischen Universität München unterstützt wurden. In einem harnstoffhaltigen Milieu manövrierten sie das Vehikel dabei mithilfe eines Magnetfeldes durch die Schleimhaut.
Allerdings mussten die Wissenschaftler noch zu einem weiteren Kniff greifen, weil zunächst Schleimhautbestandteile, die auf dem Propeller haften blieben, dessen Rotation behinderten. „Erst ein Zusatz von kleinsten Mengen Gallensäure sorgte für einen reibungslosen Vortrieb“, erklärt Debora Walker, die am Stuttgarter Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in der Gruppe „Mikro-, Nano- und Molekulare Systeme“ forscht. Bei einem Einsatz ihres Mikrovehikels etwa in einem natürlichen menschlichen Magen wäre dies allerdings nicht nötig. „In der Magenflüssigkeit sind solche Salze natürlicher Weise in kleinen Mengen vorhanden“, so Debora Walker.
Wirkstoffe gezielt transportieren
Die Forscher betonen, dass es damit erstmals gelungen sei, einen derartigen Mikroschwimmer auch durch ein zähes biologisches Medium zu manövrieren. Dennoch entsprachen die Modellbedingungen noch nicht exakt den Verhältnissen in einem menschlichen Magen. Beispielsweise sei das Milieu im Versuch weniger sauer gewesen, als dies den Verhältnissen im Magen entsprechen würde.
„Die Aktivität unserer Urease sinkt mit abnehmendem pH-Wert deutlich“, sagt Walker. Die Folge: Bei einem pH-Wert, wie er im Magen herrscht, hätte die Urease-Beschichtung der Mikroschraube schlicht zu wenig Ammoniak erzeugt, um den pH-Wert ausreichend anzuheben. Die Forscher haben aber schon Ideen, wie sie auch dieses Problem lösen können. Unter anderem denken sie darüber nach, ihr Vehikel mit einer porösen Struktur auszustatten. „Damit würden wir die Oberfläche erhöhen, könnten entsprechend mehr Fläche mit Urease beschichten – und so die Kapazität, Harnstoff in Ammoniak umzuwandeln, erhöhen“, sagt die Chemikerin weiter.
Neue Art der Medikamentenaufnahme
Sobald das Mikrovehikel einmal vollständig in der Lage sein wird, die menschliche Magenschleimhaut zu durchdringen, empfiehlt es sich auch als Taxi für pharmazeutische Wirkstoffe etwa gegen Magengeschwüre. „Die Wirkstoffe ließen sich dann direkt zu der Stelle in der Magenwand befördern, an der sie gebraucht werden“, erklärt Peer Fischer, in dessen Forschungsgruppe Mikro-, Nano- und Molekulare Systeme am Stuttgarter Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme die aktuelle Arbeit vorgenommen wurde. „Das wäre ein völlig neues Konzept der Medikamentenaufnahme."
Nach einem ähnlichen Prinzip könnten sich auch gezielt pharmazeutische Substanzen durch die Schleimhaut der Vagina und eventuell sogar des Darms transportieren lassen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Einstweilen aber freuen sich die Forscher, nach dem Vorbild von H. pylori ein System konstruiert zu haben, das sich seinen Weg durch eine biologische Schleimhaut selbst bahnen kann.