5G in der Produktion
Industrietaugliche Hardware ist nicht optimal – Anwender sind noch zögerlich
5G ist der erste Mobilfunkstandard überhaupt, der auf spezielle Bedürfnisse der Industrie zugeschnitten ist. Ein breiteres Angebot industrietauglicher Hardware ist in Sicht – wenn ausreichend viele Anwender mitziehen.
Wer mit einem 5G-Smartphone unterwegs ist, hat mittlerweile eine reelle Chance auf ein 5G-Netz. Stand Oktober 2022 lag laut Bundesnetzagentur die flächenmäßige Abdeckung im Jahr Vier nach Einführung des neuen Mobilfunkstandards bei 79 % und der Ausbau läuft. In der Industrie denken immer mehr Unternehmen über den Einsatz von 5G in Intralogistik und Produktion nach – nicht zuletzt wegen der versprochenen geringen Latenzen und der Möglichkeit, eigene ‚Campusnetze’ zu betreiben. Doch bis 5G die drahtlose Kommunikation in Fabrikhallen tatsächlich umkrempelt, ist noch viel Geduld gefragt.
„Der Mobilfunk wird nach wie vor überwiegend durch den Consumer-Markt getrieben. Dass im Mobilfunk Industrieanforderungen überhaupt ernstzunehmend mitgedacht werden, ist neu und eine sehr positive Entwicklung“, erläutert Eike Lyczkowski, 5G-Experte bei SEW-Eurodrive in Bruchsal. Allerdings erfordere die Umsetzung viel Zeit. Auch, weil 5G nicht gleich 5G ist. Der neue Mobilfunkstandard lässt sich auf unterschiedliche Nutzer-Bedürfnisse zuschneiden. Die Anforderungen in industriellen Campusnetzen sind dabei deutlich andere als die im öffentlichen Netz und das gleich auf mehreren Ebenen.
„Die öffentlichen 5G-Netze sind bis jetzt vor allem Non-Stand-Alone-Netze, basierend auf 4G (LTE) mit entsprechender LTE-Anker-Frequenz, weil zum einen die vorhandenen 4G-Netze weiterhin laufen werden und zum anderen die 5G-Produkte erst sukzessive den 5G-Stand-Alone-Betrieb unterstützen“, sagt Bernhard Niemann, Leiter der Abteilung Breitband und Rundfunk am Fraunhofer IIS in Erlangen. Für industrielle Anwendungen ist diese zweigleisige Strategie nicht unbedingt nötig. Hier geht der Trend zu eigenen, privaten Campusnetzen im Frequenzband von 3,7 bis 3,8 GHz.
„Angebote gibt es inzwischen für beides: Ich kann Campus-Netz-Equipment vor allem im Open-RAN-Bereich für Stand-Alone wie für Non-Stand-Alone kaufen. Inzwischen ist ein wachsendes Angebot an Stand-Alone-Lösungen erhältlich“, berichtet er.
Aktuelles Equipment lässt Wünsche offen
Die Crux dabei: Das derzeit erhältliche Equipment basiert größtenteils auf Release 15, der ersten 5G-Version. Zwischen Abschluss der Standardisierung und Verfügbarkeit der Features im Gerät gebe es naturgemäß eine Lücke, die üblicherweise anderthalb bis zwei Jahre betrage, schätzt Niemann. „5G ist kein monolithischer Standard, der immer konstant so bleibt. Mit jedem Release, also mit jedem Update, kommen stetig neue Möglichkeiten dazu“, erklärt er. Aktuell ist Release 16 als Standard abgeschlossen, die Arbeiten an Release 17 sind in der Endphase und laufen für Release 18 langsam an. „Release 15 deckt erste industrielle Anwendungsfälle bereits ab. Aber die wirklich industriespezifischen Features wie geringe Latenzen, hohe Zuverlässigkeit oder die Integration von Time Sensitive Networks (TSN) sind erst ab Release 16 enthalten“, ergänzt er. Mit Release 17 kommen dann unter anderem Indoor-Lokalisierungs-Möglichkeiten hinzu.
Für manche Features, die noch nicht als native 5G-Lösungen zur Verfügung stehen, gibt es Behelfslösungen. So ist beispielsweise auf Basis von Release 15 noch keine native Layer-2-Kommunikation möglich, die jedoch für die Übertragung von Profinet IO via 5G erforderlich wäre. Bereits am Markt verfügbare 5G-Router von Siemens arbeiten deshalb mit VXLAN (Virtual extensible LAN). VXLAN bettet das Profinet-IO-Protokoll, in Layer-3-Pakete ein, wodurch diese über Netzwerkgrenzen hinweg übermittelt werden können. Jedoch habe diese Variante „noch gewisse Einschränkungen mit Blick auf die Performance“, räumt Sander Rotmensen ein, Director Industrial Wireless Communication bei Siemens.
Siemens will im Laufe des Jahres eine komplette industrielle 5G-Infrastruktur für lokale, private 5G-Netze auf den Markt bringen – vom 5G-Core über das Radio Acces Network (RAN) bis zu den Radio-Units. „Die Nachfrage steigt stetig, vor allem auch in Deutschland. Wir sehen, dass inzwischen die ersten 5G-Lösungen in den produktiven Betrieb gehen. Siemens hat etwa in seinem Werk in Karlsruhe seit Oktober 2022 eine Intralogistik-Anwendung mit einem privaten 5G-Netz realisiert“, so Rotmensen.
Bosch testet und evaluiert 5G bislang in gut einem Dutzend Pilotwerken weltweit. Einerseits, um die Leistungsfähigkeit in realen Produktionsumgebungen zu untersuchen und Know-how aufzubauen, andererseits, um sein industrielles Produkt- und Lösungsportfolio 5G-fähig zu machen. So wurde beispielsweise die Steuerungstechnik ctrlX Automation von Bosch Rexroth von Anfang an auf 5G ausgelegt. „Insbesondere bei mobilen und portablen Endgeräten wird sich 5G mittelfristig durchsetzen. Denn immer dann, wenn ein hohes Maß an Flexibilität notwendig und Verkabelung hinderlich ist, kann 5G seine Stärken ausspielen“, argumentiert Bosch-5G-Experte Dr. Andreas Müller.
Auch seiner Einschätzung nach steht der ‚produktive Einsatz‘ des neuen Mobilfunkstandards in der Industrie erst am Anfang: „Für eine flächendeckende Nutzung von 5G in der Produktion fehlen bislang einige Schlüsselfunktionalitäten, die im Standard zwar bereits spezifiziert sind, aber noch nicht vollumfänglich in 5G-Halbleiter- und Infrastrukturkomponenten integriert wurden.“ Etwa die volle Unterstützung von Ultra Reliable and Low Latency Communication (uRLLC), mit der sich minimale Latenzzeiten in der Größenordnung von einer Millisekunde bei zugleich hoher Zuverlässigkeit realisieren lassen, sowie die Unterstützung einer hochpräzisen Gerätelokalisierung oder von Time Sensitive Networking.
Bis dafür „adäquates Equipment“ zur Verfügung stehe, werde es „noch ein wenig dauern“, so Müller. „In der Konsequenz bedeutet dies, dass Fabriken derzeit häufig im Parallelbetrieb arbeiten: 5G im Testbetrieb, die Serienproduktion über konventionelle Netze. Die unterschiedlichen Funktechnologien werden in vielen Fällen über einen gewissen Zeitraum einander ohnehin nicht verdrängen, sondern miteinander koexistieren. So wird beispielsweise auch WLAN weiterhin in der Produktion eingesetzt und perspektivisch vor allem dort von 5G abgelöst, wo ‚kritische Kommunikation’ in Echtzeit per Funk erforderlich ist“, erwartet der Experte.
SEW-Eurodrive betreibt seit Januar 2021 ein Ericsson-5G-Standalone-Campusnetz für Forschung in der Logistik. „Der Einstiegspunkt in diese Technologie sind Automated Guided Vehicles (AGV), die bei SEW als mobile Assistenzsysteme einen noch deutlich größeren Funktionsumfang haben. Auch für schienengeführte Systeme wie Regalbediengeräte (RBG) oder Elektrohängebahnen (EHB) wird diese Technologie in Zukunft relevant sein“, erwartet Lyczkowski. „Gassen in einem Hochregallager mit Funk auszuleuchten, ist zwar anspruchsvoller als eine weithin offene, flächige Halle zu versorgen. Aber mit gerichteten Antennen sollte sich zwischen Hochregalen durchaus eine zuverlässige Funkverbindung einrichten lassen“, ist er überzeugt. „In großen Containerhäfen funktioniert das bereits sehr gut.“
Wo bleibt günstige 5G-Technik für KMUs?
Für eine direkte Regelung von Antrieben sieht Lyczkowski 5G eher (noch) nicht. „Hier geht es um eine extrem hohe Zuverlässigkeit und um Zeiten unter einer Millisekunde“, betont er. Zudem ist eine Funklösung nicht unbedingt erforderlich: Wo Kabel für die Energiezufuhr ohnehin notwendig sind, sei es unproblematisch, zusätzlich auch Kabel für die Kommunikation zu legen. Die von Anfang an versprochene Latenz von einer Millisekunde durch 5G wird nach Einschätzung von Experten hardwareseitig frühestens in zwei bis drei Jahren erreicht sein. Wie schnell dies passieren wird, ist von einer Reihe von Faktoren abhängig:
„Im Moment ist das ein Henne-Ei-Problem“, sagt Lyczkowski. Vor allem für kleine oder mittelständische Unternehmen rechnet sich eine Funkinfrastruktur mit 5G aktuell eher noch nicht. Damit die Preise für die Hardware sinken, muss die Nachfrage deutlich steigen. „Die Nutzer warten auf das Ökosystem – Netztechnik, Endgeräte und standardisierte IT-Anbindung – und die Hersteller im Ökosystem warten auf Nutzer. Erst wenn dieses Problem in der Breite gelöst ist, wird der Mobilfunk auch die Features für die Industrie in vollem Umfang implementieren“, erwartet er.
Sein Tipp für erste eigene Versuche mit dem neuen Mobilfunk-Standard: „Einige Anbieter stellen auf Anfrage gut bepreiste Leihnetze zur Verfügung.“ Eine andere Möglichkeit sind Kooperationen mit Hochschulen oder die 5G-Testbeds der Fraunhofer-Gesellschaft. „Unser Ziel ist, die Lücke zwischen der Standardisierung und der Anwendung im Feld zu schließen“, erklärt Niemann. Dazu gehört, für frisch standardisierte Funktionen erste Testmöglichkeiten zu schaffen, bevor kommerzielles Equipment auf den Markt kommt.
„Wir setzen dafür eine Kombination aus verfügbarer kommerzieller Hardware und Eigenentwicklungen ein, etwa auf der Basis von Software-Defined-Radio-Lösungen“, so Niemann.
Bleibt die Frage, warum in 5G investieren, wenn 6G quasi schon vor der Tür steht?
„Aktuell laufen weltweit bereits mehrere große Forschungsprojekte, die der Frage nachgehen, welche neuen Funktionalitäten für den nächsten Mobilfunk-Standard wichtig sein werden und wie sie sich integrieren lassen. Unter anderem sind Frequenzen im Terahertz-Bereich in der Diskussion oder die Nutzung von ‚Intelligent Reflecting Surfaces’, um den Empfang an Stellen zu ermöglichen, wo bisher kein Mobilfunkempfang möglich ist“, berichtet er.
Die zuständige internationale Standardisierungsorganisation 3GPP (3rd Generation Partnership Projekt) werde sich nach heutiger Einschätzung ab 2025 mit ersten Studien zur Standardisierung von 6G beschäftigen.
Wie bereits 5G, wird auch 6G in vielen Punkten auf seinem Vorgänger-Standard aufbauen. Mit 5G gesammelte Erfahrungen bleiben also wertvoll. „Wir gehen davon aus, dass 6G ab 2030 im Feld verfügbar sein wird. Aber natürlich wird man wie bei 5G ein Ramp-up sehen und es wird noch einige Jahre länger dauern, bis 6G wirklich großflächig einsatzfähig ist“, erwartet Niemann.