
Ethische Aspekte sollen bei der KI-Regulierung durch den AI Act der EU im Vordergrund stehen. Reicht das, um "AI made in Europe" attraktiv zu machen? (Bild: Stock. Adobe.com - Nirusmee)
In einer Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte äußert kürzlich jeder zweite Teilnehmende die Befürchtung, dass ihn der seit August geltende AI Act der Europäischen Union in seinen Möglichkeiten beschränke, Innovationen zu entwickeln. Teilen Sie diese Sorge?
Ivana Bartoletti: Nein. Im Gegenteil!
Warum?
Bartoletti: Weil im vergangenen Jahr einerseits einige große Unternehmen gedacht haben, dass die Tatsache, an Innovationen zu arbeiten sie in gewisser Weise davon befreie, sich an geltende Regeln halten zu müssen. Es geht aber nicht, dass sich Unternehmen wegducken, wenn sie Verantwortung für die Sicherheit oder Gesundheit von Menschen übernehmen oder deren Privatsphäre respektieren müssen.
Und zum anderen?
Bartoletti: Geht es bei der KI-Verordnung im Kern vor allem darum, sicherzustellen, dass bereits bestehende Gesetze wie das Urheber- und Datenschutzrecht oder Vorschriften zum Verbraucherschutz, zur Sicherheit von Produkten sowie Antidiskriminierungsgesetze auch für künstliche Intelligenz gelten. Der Act ist also im Grunde nicht mehr als eine Marktzugangsregulierung.
Zur Person
Ivana Bartoletti (Foto) ist Global Chief Privacy and AI Governance Officer bei Wipro, einem Unternehmen für Technologiedienstleistungen und Beratung mit mehr als 230 000 Mitarbeitenden. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in der Arbeit für große Unternehmen in den Bereichen Datenschutzpolitik und Strategie sowie mit Programmen zur digitalen Transformation, Cloud und Automatisierung. Außerdem ist sie Gastdozentin für Cybersicherheit und Datenschutz am Virginia Polytechnic Institute and State University – kurz Virginia Tech – und Beraterin des Europarates.
Was meinen Sie damit genau?
Bartoletti: Mit dem AI Act reguliert die Europäische Gemeinschaft KI so wie sie einen Kühlschrank oder eine Geschirrspülmaschine reguliert. Sie will gewährleistet sehen, dass ein KI-System und das ihm zugrunde liegende Modell bestimmte Produkt- und Sicherheitsanforderungen erfüllen. Aber wenn man genau hinschaut, ist es auch etwas mehr als eine Produktregulierung – das Gesetz schließt ein, dass KI nicht die grundlegenden Werte verletzt, die uns verbinden und auf die wir uns in der Europäischen Menschenrechtscharta geeinigt haben. Genau darin liegt aber im Bereich der KI eine große Chance für Europa.
Weshalb?
Bartoletti: Weil sich europäische Unternehmen einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil erarbeiten, wenn sie ihren Kunden und der Öffentlichkeit zeigen, dass sie in der Lage sind, die Anforderungen des AI Act und die europäischen Grundwerte in den Code ihrer KI-Systeme und -Anwendungen zu übersetzen.
Worauf kommt es an, damit wir in diesem Wettbewerb erfolgreich sind?
Bartoletti: Oft wird behauptet, die EU hänge bei Innovationen hinterher, weil die Regulierungen zu streng seien. Das ist ein bisschen zu stark vereinfacht. Das Problem liegt nicht in der Regulierung an sich, sondern in der Tatsache, dass Vorschriften in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich umgesetzt werden. Das ist ein großes Hindernis für Unternehmen. Was daher nicht passieren darf, ist, dass Unternehmen sich erst mal schlau machen müssen, wie der AI Act in Deutschland, Frankreich oder Italien umgesetzt wird. Wenn alle 27 EU-Staaten ihr eigenes Ding machen, haben wir schlechte Karten.
Wenn sich die EU-Mitglieder einig sind, können wir aber einen gemeinsamen Markt mit 450 Millionen Verbrauchern in die Waagschale legen – und nicht 80 Millionen Konsumenten hier, 60 Millionen Bürger dort und in wieder anderen Staaten nicht mal das?
Bartoletti: Genau. Die EU ist ein großer Markt. Dessen Macht sollten wir nutzen und als Block handeln.
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Investieren wir in Europa genug in KI, um mit den USA mithalten zu können?
Bartoletti: Während die staatlich finanzierte Förderung von Forschung und Entwicklung in der EU im Jahr 2020 bei 110 Milliarden Euro lag – ein Großteil davon entfiel auf Förderungen nationaler Regierungen – waren es in den USA 150 Milliarden Euro. Wir sprechen hier allerdings von einem vergleichbaren Prozentsatz des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts – rund 0,7 Prozent. Dieser liegt höher als in vielen anderen Regionen der Welt.
Das heißt aber nicht, dass sich das Investitionsgeschehen in Europa nicht ändern müsste – im Gegenteil. Wir investieren nicht gut und Finanzierungsentscheidungen sind oft zu langsam und zu politisch. Außerdem investieren wir zu wenig in die Entwicklung wirklich disruptiver Innovationen. Aber wir können uns in Europa auch nicht zu einer Kopie der USA entwickeln.
Das heißt?
Bartoletti: So wie ich es sehe, brauchen wir, anders als manch andere das fordern, kein europäisches Google oder Alibaba. Worum es in Europa gehen muss, ist eine technologische und wirtschaftliche Führungsrolle im wertebasierten Umgang mit KI als Technologie aufzubauen. Denn es kommt bei KI nicht nur auf die Herstellung von Technologie an, sondern auch darauf, wie Führungskräfte sie einsetzen, um Produktivität und Prozesse zu verbessern und sie in ihre Lieferkette einbinden.
Versteifen wir uns manchmal zu sehr auf die Frage nach der Höhe der Investitionen, die in Europa in KI fließen, weil wir nicht verstanden haben, dass die Technologie eine neue Stufe erreicht hat? Dass sie nicht mehr als solche entwickelt werden muss, sondern es nun um den Umgang mit ihr geht?
Bartoletti: Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Wenn wir nur darüber klagen, was wir in Europa nicht haben, bringen wir uns im internationalen Wettbewerb um KI selbst in eine schlechte Ausgangssituation. Deshalb sollten wir uns auf das konzentrieren, was in Europa da ist.
Das da wäre?
Bartoletti: Beispielsweise viele, sehr gute Start-ups und eine hervorragende Forschungs- und Entwicklungslandschaft, die wir noch weiter ausbauen sollten.
Wie kann und muss diese mit dem AI Act umgehen?
Bartoletti: KI-Spezialisten und -Entwickler sollten lernen, wie sie den Schutz unserer Grundwerte im Design ihrer Modelle und Algorithmen anlegen. Denn wir müssen den AI Act ja auf unsere Maschinen übertragen können.
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In welcher Verantwortung sehen Sie Hochschulen, an denen Informatiker ausgebildet werden?
Bartoletti: In der akademischen Ausbildung von Entwicklern und Datenspezialisten sollte mehr Augenmerk darauf gelegt werden, wie wichtig es ist, vertrauenswürdige KI zu programmieren. Denn der Bedarf an Softwareingenieuren, die sich auf Datenschutz und die Sicherheit von KI-Anwendungen spezialisieren, wird zunehmen. Auch, weil Anwendungen in Unternehmen künftig immer mehr in crossfunktionalen Teams entwickelt werden, in denen auch Datenschutz-, Sicherheits-, Compliance- und Rechtsexperten mitwirken.