Um in Sachen Logistikanforderungen für die Zukunft gerüstet zu sein, fand der Automobilhersteller mit Lödige Industries und SEW-Eurodrive die geeigneten Partner.
Die Produktionslinien und Logistikanlagen laufen im Volkswagenwerk in Kassel seit vielen Jahre zuverlässig. Doch der Zeitpunkt kommt, dass diese Anlagen aufgrund des technischen Fortschritts, neuer Logistikprozesse und wirtschaftlicher Erfordernisse angepasst werden müssen.
In Kassel stand die Stückzahlerweiterung von Karosserieteilen des Modularen Querbaukastens der Anforderung einer hohen Anlagenverfügbarkeit der 25 Jahre alten Logistikanlage gegenüber. Das Werk ist mit mehr als 16.000 Mitarbeitern die zweitgrößte Produktionsstätte des VW-Konzerns in Deutschland.
Neben der Getriebefertigung beheimatet der Automobilhersteller hier auch die größte Gießerei und den größten Bereich der Warmumformung von Blechteilen und Karosserieteilen, eine Fertigung von Abgasanlagen und die Elektromotoren sowie die Weltzentrale für Originalteile.
Modularer Querbaukasten
Eine zentrale Innovation des Automobil-Konzerns ist der 2012 eingeführte Modulare Querbaukasten (MQB). Er markiert einen Wendepunkt bei der Konstruktion und Produktion künftiger Automobile. Durch das System lässt sich die Vielfalt der Antriebs- und Fahrwerkskomponenten um etwa 90 Prozent reduzieren.
Das Werk Kassel produziert einige Dutzend Teile für die Plattform und liefert sie für elf Modelle der Marken Audi, Porsche, Seat, Skoda und VW. Aus der nordhessischen Großstadt werden MQB-Blechteile in die anderen Werke des Konzerns per Bahn oder Lkw versandt.
In Halle 2 des Werkes befindet sich die Behälterversandanlage (BVA). Hier werden die Blechteile nach der Warmumformung und Laserbearbeitung in VW-Standardbehältern deponiert, in ein Hochregal eingelagert, kommissioniert und dann in die untere Versandebene über Heber ausgelagert. Direkt in der Halle erfolgt die Beladung auf Lkw oder Bahngleis.
Die bisherige Anlage aus dem Jahr 1987 war aufgrund sinkender Anlagenverfügbarkeit und hoher Wartungskosten für die geplante Stückzahl des MQB nicht gerüstet. Daher musste die Behälterversandanlage den Anforderungen angepasst werden. Regalbediengeräte wurden einem Retrofit unterzogen, die Heber und Kettenförderer komplett erneuert.
Frank Hölting, verantwortlicher Projektleiter im Werk, holte sich mit dem regional ansässigen Unternehmen Lödige Industries einen Partner ins Boot. Das Unternehmen konnte bereits für komplexe Logistikaufgaben der Materialflusstechnik bei namenhaften Automobilisten entsprechende Expertisen vorweisen.
Der Anlagenbauer entschied sich bei der Fördertechnik für die gleiche Kettenteilung wie in der alten Anlage. Es gibt drei verschiedene Förderlängen für einen, zwei oder drei Behälterplätze. Das heißt, eine Palette steht auf einer Kettenlänge, zwei Paletten finden auf einer größeren Kettenlänge Platz und drei Paletten stehen auf den langen Strecken. Insgesamt wurden 87 Kettenförderer, 28 Eckumsetzer und zwölf Aushubstationen für 1,5 Tonnen Fördermasse, 43 Kettenförderer für drei Tonnen, 51 Kettenförderer für 4,5 Tonnen Fördermasse verbaut.
Energieeffizienz aus Bruchsal
Bereits in der Altanlage kam Antriebstechnik von SEW-Eurodrive zum Einsatz. Die Kettenförderer wurden aber noch über Schütze im Schaltschrank mit ungeregelten Asynchronmotoren betrieben. Prinzipbedingt führte das beim Anlauf zu einer hohen Belastung der Mechanik. Auch der entsprechende Schaltschrankbedarf und der Verdrahtungsaufwand für die 221 Förderer waren nicht unerheblich. Dieses Konzept wurde unter energetischen Gesichtspunkten neu bewertet.
Herausforderung für den Volkswagen-Konzern: Bis 2018 soll der Energiebedarf für Produktion und Logistik um 25 Prozent gesenkt werden. Letztendlich fiel die Entscheidung für Stirnradgetriebemotoren mit integriertem Frequenzumrichter der Baureihe Movimot. Die Kommunikation mit der Anlagensteuerung erfolgt über AS-Interface. Diese Bustechnik wird bevorzugt in der Intralogistik eingesetzt, da sie die erforderliche Performance aufweist und einfach in Bezug auf die Systemintegration ist.
Entsprechend der Fördermassen werden die Kombinationen aus einem Getriebemotor mit einem dezentralen Frequenzumrichter eingesetzt, den es in unterschiedlichen Nennleistungen gibt. Durch die modulare Antriebselektronik hat der Kunde alle Vorteile des Betriebes am Umrichter, beispielsweise parametrierbare Beschleunigung. Ferner entfallen die Netzbelastung und der Bremsenverschleiß beim Anlauf. Das ermöglicht den schonenden Betrieb der Mechanik.
Die Baureihe Movimot-D ist standardmäßig mit Motoren der DR-Baureihe in unterschiedlichen Efficiency-Ausprägungen kombinierbar. Volkswagen entschied sich für eine Antriebslösung mit den IE4-Motoren DRU…J. Das sind Drehstrommotoren die im Rotor einen Kurzschlussläufer und Permanentmagnete enthalten und daher keine Rotorverluste aufweisen.
Somit werden servo-elektrische Eigenschaften eines Motors gepaart mit wirtschaftlichen Standardkomponenten des DR-Motorbaukastens.
Durch die synchrone Drehzahl der Motoren wird ein lastunabhängiger Drehzahlgleichlauf der Kettenförderer realisiert und dadurch eine komfortable Behälterübergabe. Die unwesentlich größeren Maße der Getriebemotoren werden durch die kompakte Bauform des Synchronläufers wieder ausgeglichen.
Dynamisch Heben und Senken
In die untere Versandebene der Halle 2 werden die VW-Standardbehälter nach der Einlagerung im Hochregallager und der Kommissionierung über Heber ausgelagert. Mechanik Made in Germany, aus dem Land des Maschinenbaus, ist oftmals sehr langlebig.
Elektrische Komponenten dagegen unterliegen häufigeren Veränderungen durch den technischen Fortschritt. Im Rahmen der Modernisierung wurden insgesamt sieben Wickelheber jeweils mit einem Stirnradgetriebe der Baugröße R97 und einem Asynchron-Servomotor DRL132S4 ausgestattet. Die Ansteuerung erfolgt über die dezentrale Antriebs- und Positioniersteuerung Movipro. Als maßgeschneiderte Antriebslösung für die Fördertechnik ermöglicht sie exakte Positionierungen mit frei parametrierbaren Softwarekomponenten. In den Hebern der BVA kommen Einheiten mit 15 Kilowatt Nennleistung zum Einsatz.
Frequenzumrichter mit Energierecycling
Das Hochregallager für die MQB-Komponenten hat sechs Gassen und insgesamt 1096 Stellplätze. Es ist 28 Meter hoch, und seine Gassenlänge beträgt 100 Meter. Das Regalbediengerät (RBG) fährt mit Teleskopgabeln in die Regalfächer, um die Waren ein- oder auszulagern. Somit sind 1600 Ein- und Auslagerungen pro Tag, also 800 Doppelspiele realisierbar.
An sechs Tagen in der Woche erfolgen im Dreischichtsystem die Produktion sowie die nachgelagerte Logistik. Durch diese hohe Auslastung unterliegt das Material starken Beanspruchungen. Beim Retrofit wurden die mechanischen Komponenten durch Lödige Industries überholt oder erneuert.
Eine besondere Herausforderung war die Integration neuer Schaltschränke für die Antriebselektronik der Fahr- und Hubantriebe, die auf dem RBG mitfahren. Alle sechs Regalbediengeräte arbeiten beim Fahr- und Hubantrieb mit den Antriebsumrichtern Movidrive.
Durch den Gleichstrom-Zwischenkreisverbund kann die freiwerdende Energie der einen Achse von der anderen Achse wiederverwendet werden – ein Recycling der generatorischen Energie. Das führt im Mittel zu einer deutlichen Energieeinsparung. Ein Movipro als dezentrale Steuerung für den Gabelantrieb befindet sich auf dem mitfahrenden Hubrahmen des RBG.
Antriebslösung mit Potenzial
In der horizontalen Fördertechnik ist die Antriebslösung mit dem Umrichter Movimot und dem hocheffizienten Synchronläufer DRU…J ein Meilenstein. Sie lässt sich praktisch überall einsetzen, wo eine Drehzahlregelung erforderlich ist.
Für Volkswagen ist dieser erste Einsatz eines IE4-Motors nicht nur ein Pilotprojekt, sondern eine wirtschaftliche Standardlösung für weitere Antriebsaufgaben. Durch die Verwendung dezentraler Frequenzumrichter für die Heber und Kettenförderer wurden viele Schaltschränke eingespart. Wo vorher eine Linie von Schränken mit zwölf Meter Länge aufgereiht war, ist der jetzt erforderliche Platz um drei Viertel geschrumpft. Zusätzlich wurde die Klimatisierung der Schaltschränke eingespart, was sich ebenfalls positiv auf die Energiebilanz auswirkt.
Bei allen Neuinstallationen im Volkswagenkonzern wird bereits während der Planungsphase großes Augenmerk auf die Energiesparanalyse gelegt. So wurde vor Beginn der Arbeiten eine Energieverbrauchsmessung durchgeführt. Im Januar 2014 erfolgte die abschließende Messung an der Behälterversandanlage. Das Ergebnis: mehr Produktivität und etwa 15 Prozent weniger Energieverbrauch. Möglich wurde das vor allem durch modernen Elektromotoren und eine neue Steuertechnik. jl