Über elf Jahre ist es inzwischen her, dass der Begriff Industrie 4.0 seinen Siegeszug rund um den Globus angetreten hat. Dahinter verbirgt sich ein tiefgreifender Transformationsprozess, der die industrielle Produktion grundlegend verändern soll und eine neue Stufe der Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfung zündet. Was hier noch etwas abstrakt klingt, lässt sich klar auf folgendes Ziel der vierten industriellen Revolution herunterbrechen: Individuelle, kostengünstige Einzelstücke sollen in großer Anzahl durch eine flexible und selbstorganisierte Fertigung hergestellt werden können.
Genau anhand dieser Erklärung wird bereits einer der wesentlichen Irrtümer im Kontext der Industrie 4.0 deutlich. Denn: Der Transformationsprozess zielt keineswegs darauf ab, die industrielle Produktion zu digitalisieren. Die technischen Befähiger der vierten industriellen Revolution basieren vielmehr auf der Digitalisierung. Oder kurzum: Die Digitalisierung ist Mittel zum Zweck, um eine individuelle Fertigung zu den Kosten eines Massenprodukts überhaupt erst zu ermöglichen. Die dafür erforderlichen Fähigkeiten bieten darüber hinaus weitere Vorteile durch Möglichkeiten zur Verbesserung der Resilienz, der Nachhaltigkeit und der Produktivität in der Produktion oder auch der Qualität der Produkte.
Diese Klarstellung vorangestellt ergibt sich zugleich ein völlig anderer Blick auf den Status quo der Industrie 4.0. Natürlich ist es keineswegs so, dass das Prinzip der wandelbaren Fertigung bereits überall in Deutschland Standard ist. In Anbetracht dessen, über wie viele Jahrzehnte sich die vorangegangenen industriellen Revolutionen jeweils erstreckt haben, wäre dieses Ziel auch stark überambitioniert. Eine tiefgreifende Umstrukturierung, wie sie die Industrie 4.0 vorsieht, ist nicht binnen weniger Jahre zu erreichen – hier brauchen wir etwas mehr Geduld, bis die Revolution flächendeckend ihre Früchte trägt.
Industrie-4.0-Middleware BaSyx als Open-Source-Lösung
Gleichzeitig konnten Politik, Wirtschaft und Wissenschaft während der vergangenen Jahre bereits große Erfolge im Hinblick auf Industrie 4.0 erzielen. Deutschland hat in vielerlei Hinsicht eine führende Position im Wandlungsprozess eingenommen und technologisch die Voraussetzungen für eine flächendeckende Transformation geschaffen. Ein Beispiel: die Industrie-4.0-Middleware BaSyx. Diese wurde gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und 14 weiteren Partnern aus Wirtschaft und Forschung im Rahmen von Forschungsprojekten entwickelt.
BaSyx enthält eine Anzahl wohldefinierter Module, die zu einer zentralen oder dezentralen Systemarchitektur verknüpft und miteinander integriert werden können. Dementsprechend kann auch jedes Unternehmen selbst auswählen, welche Fähigkeiten und auch welche Komponenten es für einen bestimmten Anwendungsfall benötigt.
Wie die BaSyx-Middleware die Umsetzung von Industrie 4.0 vereinfachen soll
Ein entscheidendes Element stellen dabei die Verwaltungsschalen dar. Dabei handelt es sich um standardisierte Digitale Zwillinge, die es ermöglichen, sämtliche Datenmodelle und Protokolle so aufzubereiten, dass sie interoperabel sind. Jede Verwaltungsschale enthält hierbei Teilmodelle, die spezifische Eigenschaften von Assets für die genutzten Industrie-4.0-Anwendungsfälle abbilden. Dazu können z.B. statische Daten oder Live-Daten, aber auch Simulationsmodelle gehören. Um den Wandel hin zur Fertigung nach Industrie-4.0-Standards flächendeckend zu etablieren, steht BaSyx interessierten Unternehmen Open Source zur Verfügung.
Trotz der Erfolge ist das Potenzial von Industrie 4.0 aber bei Weitem noch nicht ausgeschöpft – im Gegenteil. Wurden während der vergangenen Jahre vielerorts die notwendigen Investitionen in die technischen Voraussetzungen der Transformation getätigt, ist mit den 2020er-Jahren nun das Jahrzehnt angebrochen, während dem sich die Mühen auszahlen und rentieren sollen.
Mit Industrie 4.0 starkes wirtschaftliches Zukunftsfeld etablieren
Gelingt es uns, die Forschung hierbei gezielt weiter voranzutreiben, kann Industrie 4.0 einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen leisten. Dazu zählt unter anderem die Klimakrise, die Innovationen im Kontext der Nachhaltigkeit in der Entstehung von Produkten und Services sowie über den gesamten Lebenszyklus hinweg unabdingbar macht. Ressourcen- und Energieeffizienz waren von Beginn an Gegenstand der Industrie 4.0; ebenso wie der Aspekt einer resilienten Produktion. Demnach ermöglicht es eine intelligent vernetzte Herstellung einem Unternehmen überhaupt erst, flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren und die Produktion vor Ausfall zu bewahren.
Darüber hinaus birgt Industrie 4.0 die Chance, die technologische Souveränität des deutschen Wirtschaftsstandorts im internationalen Wettbewerb zu festigen. Insbesondere die Entwicklung neuer, primär datengetriebener und plattformbasierter Geschäftsmodelle könnte hier perspektivisch dazu beitragen, ein starkes wirtschaftliches Zukunftsfeld für die Bundesrepublik zu etablieren.
Die Schilderungen machen deutlich: Die Fähigkeiten und Chancen der Industrie 4.0 liegen auf dem Tisch. Vor allem aus Forschungssicht müssen nun aber noch zusätzliche Maßnahmen und Initiativen mit verschiedenen Themenschwerpunkten initiiert werden, um die vierte industrielle Revolution weiter voranzutreiben und vollumfänglich in der Praxis zu implementieren. Auch fundierte Analysen, die den Status quo und die bestehenden Defizite sowie Entwicklungschancen kenntlich machen, braucht es jetzt mehr denn je. Ich bin zuversichtlich, dass uns die zweite Halbzeit der Industrie 4.0 ein spannendes Spiel liefern wird – vorausgesetzt, Stakeholder aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ziehen dafür gemeinsam an einem Strang.