
Die Industrie profitierte enorm von seiner Entdeckung, doch die Umwelt und die menschliche Gesundheit zahlten einen schier unglaublichen Preis. (Bild: gemeinfrei)
Wir schreiben das Jahr 1908, eine Frau fuhr mit ihrem Automobil über die Belle-Isle-Brücke in Detroit, als sie ungewollt ihren Motor abwürgte. Vor über 115 Jahren wurden Autos noch von Hand ‚angeworfen‘ – mittels einer Handkurbel. Und das war ziemlich kraftraubend, sodass die Frau ihr Gefährt nicht ohne Hilfe wieder in Gang brachte. Zum Glück spielt unsere (wahre) Geschichte in einer Zeit, als man sich als Automobilist noch gegenseitig aushalf. Immerhin ist ein Auto nichts für jedermann. Wo kämen wir denn da hin? Eigentlich überall hin, was der Sinn eines Autos war, Henry Ford fing gerade erst an, das Modell T zu bauen.
Wie dem auch sei: Ein Mann hielt an, um der Dame in Not beizustehen, warf sich Gentleman-like ins Zeug und die Anlasskurbel. Wie die Dame ausgesehen hat, weiß man nicht und auch nicht, wie charmant die beiden zueinander waren oder wie abgelenkt der Herr war. Was man jedoch weiß, ist, dass der Herr fälschlicherweise den Motor verkehrt herum andrehte – eine Gefahr für den Automobilisten, denn dann ‚schlägt‘ der Motor zurück und meistens den Andrehenden.
Genau das passierte – dem Helfer in der Not wurde der Kiefer gebrochen, und da die Erfindung von Penicillin noch bis nach dem großen Krieg auf sich warten ließ, verstarb der Mann an den Folgen seiner edlen Tat.
Automation NEXT: Wir schreiben, what´s next!

- Dieser Artikel stammt aus der ersten Ausgabe von Automation NEXT, dem neuen Magazin für Automatisierung und Konstruktion.
- Automation NEXT ist der Zusammenschluss der Titel ke NEXT und IEE, der digital bereits im November 2023 stattgefunden und nun auch in gedruckter Form vollzogen wird.
- Das Magazin Automation NEXT erscheint in acht Ausgaben pro Jahr mit einer gedruckten Auflage von 30.000 Exemplaren.
- Hier gehts zum Abo: https://fachzeitschriften.shop/products/automationnext
Nun war dieser Mann aber ein enger Freund von Henry Leland, dem Gründer des Autoherstellers Cadillac. Dieser war von dem Unfall so mitgenommen, dass er schwor, diese Todesfallen am Auto abzuschaffen, damit Menschen nicht durch das Anlassen ihres Fahrzeugs zu Schaden kommen konnten.
Als der Cadillac 30 herauskam, waren die Menschen begeistert – das Auto war extrem stark (40 PS) und brachte dem Konzern unglaubliche Gewinne. Es war aber auch laut. Unangenehm laut.
Das lag daran, dass der Motor des Cadillacs sein Luft-Benzin-Gemisch im Vergleich zu anderen Motoren extrem verdichtete, so dass es Frühzündungen im Zylinder gab – der Motor klopfte. Das tat weder den Ohren der Fahrer, Fußgänger noch dem Motor gut. Es musste also eine Möglichkeit her, dass Benzin ‚klopffest‘ gemacht werden konnte.
Eine 200-Millionen-Dollar-Idee
Jetzt kommt Thomas Midgley Junior ins Spiel – hochintelligent, hochmotiviert und absolut skrupellos. Schnell fand er eine Lösung für das Problem, aber die war leider zu teuer, um genug Profit herauszuschlagen. Nach weiteren fünf Jahren Forschung aber fand er die Lösung: Tetraethylblei. In einem Telefonat mit seinem Auftraggeber sagte er: „Can you imagine how much money we’re going to make with this? 200 million dollars, maybe even more!“ Heute sind das - kaufkraftangeglichen - rund 3 Milliarden Dollar. Sie patentierten die Idee und nannten ihr Produkt ‚Ethyl‘.
Bitte, wir reden lieber nicht von ‚Blei‘ – das ist schlecht fürs Marketing. Und jetzt ging die Massenproduktion richtig los. Es wurden extra Fabriken gebaut, um die Nachfrage zu stillen. Und Millionen Automotoren verbrannten bis in die späten 1980er-Jahre verbleites Benzin. Dadurch kamen im Laufe der Zeitspanne Millionen Tonnen Blei in die Umwelt.
Die Aufnahme von Tetraethylblei in den Körper kann durch Einatmen, Aufnahme über die Haut oder durch Verschlucken erfolgen. Es ist lipophil, giftig und selbst die Aufnahme geringer Mengen führt zu schweren Bleivergiftungen.
Thomas Midgley Junior wusste das. Während sich in der neugebauten Fabrik sehr schnell sehr viele Arbeiter Bleivergiftung holten, blieb er seiner Erfindung wann immer möglich fern. Aus gutem Grund, er selbst hatte mit einer schweren Bleivergiftung zu kämpfen.
Auf die Gefahren angesprochen, tat er dies als Humbug ab und bewies die Ungefährlichkeit öffentlich, indem er selbst eine Handvoll (ja, auf die nackten Hände) ‚Ethyl‘ mehrere Minuten lang einatmete. Was Habgier nicht alles möglich macht. Etwas aufgeben, das, für die Industrie wie ein Geschenk des Himmels ist, nur weil es möglicherweise ein Risiko birgt, kommt nicht in Frage.
Das hat Frank Howard zum Thema gesagt, der damalige Präsident von Standard Oil. (Ich empfehle die Geschichte des Konzerns – spannend.)
Studien zeigten, dass der moderne Mensch etwa die 1 000-fache (ja, tausendfache!) Menge an Blei im Körper hat, als seine Vorfahren, also diejenigen, die vor dem verbleiten Benzin lebten und starben. Weiterhin wurde erkannt, dass Blei in der Entwicklung schwere Schäden verursacht und unter anderem zu Lernstörungen, aggressivem Verhalten und vermindertem Intelligenzquotienten führt.
Man schätzt, dass durch die Einführung von verbleitem Benzin mehr als 800 Millionen IQ-Punkte weltweit verloren gingen.
Ein großartiger Erfolg also. Und daher sollte Midgley auch befördert werden. General Motors baut ja nicht nur Autos, sondern auch Küchengeräte. Um genau zu sein: Kühlschränke. Und das Problem mit dem Kühlmittel damals ist, dass es entweder giftig oder brennbar ist. Da fiele Thomas Midgley doch sicher etwas Passendes ein.
Und, wie erwartet, konnte Thomas Midgley liefern: Er entwickelte ‚Freon‘ – ein extrem stabiles, leichtes Gas, das absolut ungiftig ist – so ungiftig, dass Midgley es öffentlich einatmete und damit eine Kerze ausblies. (Der Mann hatte echt ein Problem.)
Wir kennen Freon heute als Fluorchlorkohlenwasserstoff oder kurz FCKW. Und was das für Folgen hatte, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.
Ein Umwelthistoriker schrieb, dass Thomas Midgley Juniors Existenz mehr negative Auswirkungen auf diesen Planeten hatte als jeder andere Organismus in der Erdgeschichte.
Thomas Midgley Junior bekam das volle Ausmaß seiner Taten nicht mehr mit. Er erkrankte 1940 an Kinderlähmung und blieb behindert. 1944 wurde er erdrosselt aufgefunden, und zwar mit einer von ihm erfundenen Vorrichtung, die es ihm ermöglichen sollte, ohne fremde Hilfe aus dem Bett zu steigen. Eine seiner weniger gefährlichen Erfindungen. Vielleicht aber auch die Nützlichste für die Menschheit.

Der Autor Bernhard Richter ist verantwortlicher Redakteur für die keNEXT. Er beschreibt sich selbst als besserwisserischer olivgrün angehauchten Nerd-Metaller mit einem Hang zu allem Technischen, Faszinierendem, Absurden. Das ganze gepaart mit einem deftigen Schuss schwarzem Humor. Der studierte Magister Anglistik, Geschichte und Ethnologie hat mittlerweile schon einige Jahre (Fach-) Journalismus auf dem Buckel, kennt aber auch – dank Ausflug in die PR – die dunkle Seite der Macht.
Privat findet man ihn oft in Feld und Flur – aber auch auf dem Motorrad, in der heimischen Werkstatt Wolfsburger Altmetall restaurieren oder ganz banal (mit Katze auf dem Schoß) vorm Rechner, zocken.