Die vierte industrielle Revolution hat es derzeit nicht leicht. Manche sehen sie in der industriellen Realität noch gar nicht richtig angekommen, andere sogar als gescheitert. Doch das Thema verdient ein genaueres Hinsehen.

Die vierte industrielle Revolution hat es derzeit nicht leicht. Manche sehen sie in der industriellen Realität noch gar nicht richtig angekommen, andere sogar als gescheitert. Doch das Thema verdient ein genaueres Hinsehen. (Bild: Adobe Stock / Alexander Limbach)

Die Digitalisierung der Automatisierung ist in vollem Gange, zum Teil wird in diesem Zusammenhang schon von Industrie 5.0 gesprochen. Ist das gerechtfertigt?

Prof. Peter Liggesmeyer: Zunächst einmal ist Industrie 4.0 ja eine Entwicklung, die vor mehr als zehn Jahren in Deutschland entstanden ist und die vierte industrielle Revolution charakterisiert. Und diese vierte industrielle Revolution ist nach meiner Überzeugung noch nicht vorbei, weshalb man eine fünfte nicht benötigt. Ich kritisiere nichts an den Inhalten dessen, was unter der Überschrift Industrie 5.0 diskutiert wird.  Was ich kritisiere, ist die Einführung eines neuen Begriffes, der völlig unnötig ist.

Warum ist er überflüssig?

Liggesmeyer: Einfach, weil alles, was dort an Inhalten aktuell diskutiert wird, von Anfang an auf dem Fahrplan von Industrie 4.0 stand und heute noch steht.

Zur Person: Prof. Peter Liggesmeyer

Peter Liggesmeyer ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern, Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineering am Fachbereich Informatik der TU Kaiserslautern sowie wissenschaftlicher Sprecher des Forschungsbeirats Industrie 4.0. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben den Fokusthemen Industrie 4.0, Künstliche Intelligenz und autonome Systeme vor allem Verfahren zur umfassenden Sicherheitsanalyse für Smart Ecosystems. Er gilt als einer der Vordenker der digitalisierten Fertigung.

Professor Peter Liggesmeyer
Professor Peter Liggesmeyer (Bild: Fraunhofer IESE)

Woher kommt dann dieser Wunsch nach einem neuen “Label”?

Liggesmeyer: Es ist nach meiner Überzeugung so, dass manch ein Unternehmen versucht hat, bestimmte Technologien unter der Überschrift Industrie 4.0 zu verkaufen, die vielleicht besser die Überschrift Industrie 3.1 gehabt hätten. Denn wo ein attraktiver Begriff im Raum steht, erscheint es natürlich auch attraktiv zu behaupten, man sei schon dort angelangt - auch wenn man es vielleicht in Wirklichkeit noch nicht ist.

An welche Bereiche denken Sie dabei?

Liggesmeyer: Neben der Schaffung individueller Produkte geht es im Kern darum, den Menschen auf eine neue Art wieder in die Produktion zu integrieren, etwa durch die Mensch-Roboter-Kollaboration. Das ist aber eine Zeit lang nicht in den Mittelpunkt gestellt worden. Stattdessen wurde über Vernetzung und KI diskutiert.

Was ist daran falsch?

Liggesmeyer: Zu sagen, der Gegenstand von Industrie 4.0 sei Vernetzung, wäre ungefähr, wie zu behaupten, der Gegenstand von Industrie 2.0 - also der zweiten industriellen Revolution - war die Einführung des Fließbands. Das ist Unsinn. Das Fließband war lediglich ein probates Mittel, um Prozesse arbeitsteilig zu realisieren, in kleine Schritte zu zerlegen und einen gleichmäßigen Takt zu erzeugen, in dem Arbeitsprozesse ablaufen. Die Idee dahinter war es, standardisierte Massenprodukte zu günstigen Preisen zu realisieren - und das ließ sich eben erreichen durch eine genaue Planung der Produktionsabläufe und deren Zerlegung in viele kleine Schritte, die dann in definierter Art und Weise ablaufen. Dazu kann man ein Fließband verwenden.

Und was ist die übergeordnete Idee bei Industrie 4.0?

Liggesmeyer: Die zentrale Idee bei Industrie 4.0 ist eigentlich, diese Hinwendung zu Massenprodukten wieder rückgängig zu machen. Man möchte mehr Individualisierung zurück, was manchmal eine reine Komfortfunktion hat, an anderen Stellen aber auch eine zwingende Notwendigkeit sein kann.

Woran denken Sie dabei?

Liggesmeyer: Man kann darüber streiten, ob man etwa bei Autos noch mehr Individualisierung braucht. Aber es gibt Bereiche, etwa in der Medizin und in der Pharmazeutik, wo man bestimmte Therapeutika Patienten-individuell herstellen muss. Heute geschieht das im Wesentlichen noch von Hand, was den Nachteil hat, dass sie sehr teuer sind und in zu geringer Menge zur Verfügung stehen. Hier könnte eine Automatisierung im Sinne eines zentralen Prinzips der Industrie 4.0 einen sehr positiven Effekt erreichen.

Welches Prinzip meinen Sie dabei?

Liggesmeyer: Dass die Information über das zu produzierende Produkt von außerhalb in die Produktionsumgebung hineingebracht werden kann. Also, dass die Produktionsmittel selbst einen Weg finden, diesen Wunsch nach Individualisierung zu erfüllen und einen Produktionsplan generieren, an dessen Ende eben ein individualisiertes Produkt in hoher Qualität steht. Um das zu können, ist völlig klar, muss auch alles miteinander vernetzt sein.

Die Vernetzung quasi als Pendant zum Fließband in der zweiten industriellen Revolution?

Liggesmeyer: Ja, genau. Wir haben vielleicht den Fehler gemacht, in der Vergangenheit die technischen Hilfsmittel wie Vernetzung oder KI zu stark in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei haben wir ein wenig aus den Augen verloren, dass es eigentlich um eine möglichst gute Arbeitsteilung zwischen Maschinen und Menschen geht.

Also die Mensch-Roboter-Kollaboration?

Liggesmeyer: Diese Interaktion mit dem Roboter wird jetzt unter der überflüssigen Überschrift Industrie 5.0 in den Mittelpunkt geschoben. Das erzeugt die falsche Wahrnehmung, als sei Industrie 4.0 jetzt abgehakt und man könnte sich dem neuen Thema zuwenden.

Ein verfrühter Aufbruch?

Liggesmeyer: Meines Erachtens sogar brandgefährlich, weil viele Unternehmen viel in die Schaffung der Grundvoraussetzungen von Industrie 4.0 investiert haben und eigentlich jetzt in eine Phase kommen, wo sie von dieser Investition profitieren.

Es gibt aber sehr kritische Stimmen zu der Entwicklung von Industrie 4.0 bisher. Der Vorsitzende des VDMA-Bereichs Software und Digitalisierung, Michael Finkler, spricht von sinkender Effizienz und zehn verlorenen Jahren. Was würden Sie ihm darauf antworten?

Liggesmeyer: Ich würde ihn fragen, wo er diese Einschätzung hernimmt. Ich könnte ihm viele Unternehmen nennen, die genau das Gegenteil sagen. Es ist sicherlich so, dass wir das volle Potenzial von Industrie 4.0 an vielen Stellen noch nicht ausgeschöpft haben. Aber das ist ganz normal: Wenn man einen Paradigmenwechsel hat, dann durchläuft man eine Lernkurve und diese führt dazu, dass man zu Anfang mehr Aufwand als Nutzen hat. Doch wenn man die richtige Richtung einschlägt, kehrt sich das Ganze um.

 

Das Fraunhofer IESE hat über die vergangenen Jahre hinweg gemeinsam mit verschiedenen Konsortialpartnern die Open-Source-Middleware Eclipse BaSyx entwickelt. Diese unterstützt Unternehmen – insbesondere KMU – bei der Realisierung von Industrie 4.0. Zugleich versuchen viele große Unternehmen, ihre eigenen Lösungen im Markt zu platzieren. Hat BaSyx gegen diese Marktmacht überhaupt eine Chance?

Liggesmeyer: Ich glaube sogar, dass Open Source die wichtige Möglichkeit ist, um zu verhindern, dass Entwicklungen von Einzelunternehmen monopolisiert werden. Also insbesondere eine Open-Source-Variante, die es Unternehmen ermöglicht, den Code als Basis für eigene Weiterentwicklungen zu nehmen. Das ist bei BaSyx der Fall: Man darf eigene und dann auch kommerzielle Entwicklungen darauf aufsetzen. Wir möchten gerne mit dieser Open-Source-Lösung eine leicht erreichbare Einstiegsmöglichkeit in die Industrie 4.0 schaffen, die keine Lizenzgebühren erfordert, was vornehmlich kleinere Unternehmen abschrecken könnte. Darüber hinaus ist die Idee bei BaSyx, eine Lösung zu haben, die vollständig transparent ist. Nicht nur die Middleware selbst ist offen, sondern auch alle Spezifikationen und die Entwicklungsumgebung.

Werden denn diese Möglichkeiten auch genutzt von der Industrie?

Liggesmeyer: Wir wissen, dass es schon einige kommerzielle Angebote gibt, in denen tatsächlich BaSyx drin steckt. Einige Anbieter sagen das ganz offen, andere nicht. Tatsächlich wissen wir nicht ganz genau, wie viele Unternehmen BaSyx nutzen, weil die Eclipse Foundation, wo BaSyx jetzt angesiedelt ist, diese Information nicht nachhält. Was wir aber wissen ist, dass es bis heute schon deutlich mehr als 130.000 Downloads von Docker-Containern mit BaSyx-Komponenten gegeben hat.

Ich glaube schon, dass das ein guter Weg für die Zukunft ist, der für diejenigen, die in dieser Community aktiv sind, auch kommerziell rentabel sein kann. Wir bemühen uns, mit BaSyx einen Defacto-Standard zu realisieren, der auch an kommerzielle Plattformen anderer Unternehmen anschließbar ist. Nichts hindert die großen Ausrüster daran, ihre Systeme mit einem BaSyx-Interface zu versehen, was aus Sicht eines Anwender-Unternehmens den interessanten Aspekt enthält, dass man Lock-in-Phänomene vermeiden kann. Man muss sich nicht auf Gedeih und Verderb den Plänen eines bestimmten Ausrüsters ergeben, sondern hat die Möglichkeit, die Dinge etwas flexibler zu halten.

In der IT hat in den letzten Jahrzehnten eine große Verschiebung stattgefunden: Hardware wird zunehmend standardisiert und zur “Black Box”, die Wertschöpfung hat sich massiv auf die Software verlagert. Wird sich das bei der OT wiederholen, oder ist das ein Vergleich von Äpfeln und Birnen?

Liggesmeyer: Ich habe dazu eine sehr klare Meinung. Ich glaube tatsächlich, dass sich das wiederholen wird - und dass es tatsächlich schon passiert. Wir sehen das ganz intensiv im Bereich Automotive und dem Wechsel vom Verbrenner zum Elektroantrieb. In solchen ‚klassischeren‘ Industrien hat Deutschland eine lange und erfolgreiche Tradition bei der Entwicklung von Lösungen für den Maschinenbau. Diese haben über Jahrzehnte den Ton angegeben. Nur, dass die Differenzierung in diesen Märkten heute anders erfolgt: nicht mehr über Motorleistung, Hubraum oder Zylinderzahl, sondern im Wesentlichen über die Fähigkeiten des Fahrzeugs. Und das ist eben sehr oft von der Software getrieben.

Ein Paradigmenwechsel, der im deutschen Maschinenbau noch nicht richtig angekommen ist?

Liggesmeyer: Der häufige Fall ist, dass immer noch die Hardware den Ton angibt und die Software muss dann darauf reagieren. Es müsste eigentlich umgekehrt sein! Wenn man von der neuen Art der Differenzierung profitieren will, dann muss man die Hardware standardisieren. Dann ergibt sich die Möglichkeit, die Software als differenzierendes Element weitgehend beizubehalten und weiterzuentwickeln. Man muss nicht jedes Mal, wenn sich bei der Hardware etwas ändert, anfangen, neu zu entwickeln. Natürlich ist es sehr schwierig, einen solchen Paradigmenwechsel mental zu vollziehen. Ich glaube aber, dass das überfällig ist.

Tun sich europäische Unternehmen hier schwerer als amerikanische oder asiatische?

Liggesmeyer: Es ist bei einer Neugründung natürlich einfacher, gleich mit dieser Geisteshaltung einzusteigen, als in einem Traditionsunternehmen diesen Wechsel zu vollziehen. Das ist vielleicht eine Erklärung dafür, dass neue Unternehmen wie Tesla, oder einige asiatischen Autohersteller sich leichter tun als unsere Autohersteller in Europa, die aus einer anderen Tradition kommen. Das Gleiche gilt für die Automatisierungstechnik natürlich auch.

Sehen Sie eine Chance, dass Deutschland hier wieder aufholen kann?

Liggesmeyer: Die Chance für Europa und insbesondere für Deutschland sehe ich darin, dass wir eine große Tradition haben, unterschiedliche Engineering-Disziplinen zusammenzubringen. Ich sehe Informatik als eine Ingenieur-Disziplin, weil sie sich mit großen Systemen und deren Architekturen befasst. In dieser Hinsicht sind wir meines Erachtens besser positioniert als etwa die USA.

Woran liegt das?

Liggesmeyer: Die großen Unternehmen aus den USA sind ja oft reine IT-Konzerne und oft noch nicht so schrecklich alt. Viele der großen Player in Deutschland sind recht alte Unternehmen und haben dementsprechend viel Know-how in unterschiedlichen Bereichen gesammelt. Wenn man an Konzerne wie Siemens denkt, dann sind diese Unternehmen auch schon seit Jahrzehnten Softwareunternehmen - aber eben nicht nur. In Zukunft wird die Herausforderung ganz klar darin liegen, gutes Systems Engineering zu machen, also ein Thema als Ganzes zu konzipieren.

Worin genau liegt dabei die Herausforderung?

Liggesmeyer: Das erfordert, dass ich einen Weg finden muss, die Hardware und die Software gemeinsam zu entwickeln und das auch noch für zunehmend dynamische Kontexte. Etwa für autonome Systeme oder sich dynamisch konfigurierende und rekonfigurierende Systeme.

Können Methoden der Künstlichen Intelligenz dabei helfen?

Liggesmeyer: Alles redet über ChatGPT im Moment. Aber wichtiger wäre es meines Erachtens, darüber zu sinnieren, maschinelles Lernen für die Auswertung von Kamerabildern für Industrie 4.0 oder auch für autonome Mobilität zu erschließen.

Aber KI kommt doch etwa bei der Bildverarbeitung schon vielfach zum Einsatz…?

Liggesmeyer: Ja, aber das Problem dabei ist, dass im Moment noch niemand für maschinell lernende Komponenten verlässliche Grenzrisiken angeben kann, die als Grundlage für die Safety-Zertifizierung notwendig wären. Ein Beispiel: Wenn mich mein KI-basiertes Navigationssystem beim ersten Mal nicht versteht, dann spreche ich eben lauter und deutlicher - ich habe einen zweiten Versuch. Wenn bei einem autonomen Auto der Fußgänger nicht sicher erkannt wird, gibt es keine zweite Chance. Da braucht es ein ganz anderes Qualitätsniveau. Wir müssen da noch eine Schippe oben drauflegen. Wer diese Nuss knackt, hat natürlich einen ganz klaren technologischen Vorteil für viele ernstzunehmende Anwendungsbereiche.

Der Autor: Peter Koller

Peter Koller
(Bild: Anna McMaster)

Gelernter Politik-Journalist, heute News-Junkie, Robotik-Afficionado und Nerd-Versteher. Chefredakteur des Automatisierungsmagazins IEE. Peter Koller liebt den Technik-Journalismus, weil es das einzige Themengebiet ist, wo wirklich ständig neue Dinge passieren. Treibstoff: Milchschaum mit Koffein.

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