Zukunftsprognose,

Welche Techniken sich etablieren werden, hängt von vielen Faktoren ab. (Bild: KIT)

Da nicht feststeht, welche Techniken sich etablieren werden und welche gesellschaftlichen Effekte dies zeitigen wird, sprechen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim Blick voraus lieber von „Zukünften“. Wie wichtig diese Forschung ist, zeigt der Blick zurück. Denn nicht immer hat sich die „beste“ Technik durchgesetzt. „Man kann die Zukunft nicht vorhersagen, indem man das bereits Geschehene linear fortschreibt“, sagt Professorin Heike Weber, Mitglied der Leitung des ITZ. Oft haben neue Techniken völlig andere, unvorhergesehene Kontexte erzeugt, die wiederum ganz andere Folgen verursachten als gedacht.

Erfindung Handy: Warum soll ich im Supermarkt jemanden anrufen?

Als Beispiel nennt die Professorin für Technikkulturwissenschaft die Verbreitung des Mobilfunks und die neuartige Handy-Kommunikationskultur, die sich in den Dekaden um die Jahrtausendwende entwickelt hat. „Auf die Frage, ob sie ein Handy brauchen, haben die Leute in den späten 1980er Jahren geantwortet: ‚Warum soll ich aus dem Supermarkt meine Oma anrufen? ‘“ Als Zielgruppe hätten die Entwickler und Hersteller wegen der hohen Kosten Geschäftsleute im Auge gehabt, die viel unterwegs sind. „Und genauso wurde die Zukunft des Mobilfunks damals diskutiert“, so Weber weiter.

Bekanntlich kam es anders. Es sei eben abhängig vom jeweiligen zeitlichen Kontext und den in der Gesellschaft vorherrschenden Werten und Mentalitäten, was vorstellbar sei. Als Konsequenz bezeichnen die Karlsruher Historiker des ITZ die von ihnen untersuchten Leitbilder, Simulationen, Szenarien, Visionen und Utopien lieber als soziotechnische Zukünfte.

Dass Menschen neue Technologien keineswegs immer so nutzen, wie ursprünglich angenommen, bedeutet im Umkehrschluss, dass gesellschaftliche Debatten über technische Entwicklungen häufig von einseitigen Vorstellungen geprägt sind. „Es wird zum Beispiel oft erwartet, dass selbstfahrende Auto werde unsere Verkehrsprobleme lösen. Aber vielleicht wird es irgendwann schick, es mal schnell in den Laden zum Butter holen zu schicken. Was dann?“, fragt Professor Marcus Popplow, ebenfalls Mitglied der Leitung des ITZ.

Gerade Mobilitätsentscheidungen seien häufig spaß- und freizeitgetrieben, ergänzt Weber: „Die ersten Autofahrer vor rund hundert Jahren waren gutverdienende Männer, die das Abenteuer suchten. Zweckmäßigkeit hat für sie keine Rolle gespielt.“ Wenn man berücksichtige, dass die durchschnittliche innerstädtische Reisegeschwindigkeit heute wie damals 20 bis 30 Stundenkilometer betrage, habe das Automobil an der städtischen Verkehrssituation nicht viel geändert – im Gegenteil, alternative Mobilitätstechniken wurden sogar beschränkt wie zum Beispiel das Radfahren oder die städtische Tram. „Da müssen wir uns doch fragen, ob es nicht ganz andere Verkehrskonzepte gibt, als Leute in kleine Kapseln auf der Straße zu stecken – ob die jetzt von selbst fahren oder nicht“, meint Weber.

Wird sich die vernünftige Lösung durchsetzen?

„Wenn wir technische Projekte debattieren – etwa die Energiewende oder autonomes Fahren –, gehen wir außerdem davon aus, die vernünftigste Lösung werde sich durchsetzen“, so Popplow weiter. Die Vergangenheit habe indes gezeigt, dass sich beileibe nicht immer die Technik durchsetze, die man im Nachhinein als die effizienteste oder technisch gelungenste bewerten würde. Im Gegenteil. Beispiel Elektromobilität: In den USA gab es 1912 knapp 34.000 elektrisch getriebene Fahrzeuge, so viele wie Anfang 2017 Elektroautos in Deutschland. Warum hat sich der leise und saubere Elektromotor gegenüber dem lauten Verbrennungsmotor nicht durchgesetzt? Wie hat man darüber geredet und wie hat man gehandelt?

Durch das Analysieren vergangener Debatten können fruchtbare Perspektiven für die Gegenwart gefunden werden. „Viele Technologien, die wir heute als normal ansehen, sind einst überhaupt nicht normal gewesen“, sagt Weber. Vielmehr wurden sie über die Zeit hinweg „normalisiert“. So wird die flächendeckende Einführung des Wasserklosetts, die sich in den europäischen Großstädten in der Zeit um das Jahr 1900 vollzog, heute von vielen Umwelthistorikern als „ökologische Katastrophe“ bezeichnet. Auch im späten 19. Jahrhundert hatten sich zahlreiche Stadttechniker und Ingenieure noch um die Verwertung der Fäkalien als Dünger – heute würde man von Phosphatrückgewinnung sprechen – gekümmert, ehe dann die Entwicklung des Kunstdüngers das damals durchaus hygienisch problematische „Recycling“ beendete. Heute bemüht sich die Forschung wieder darum, Abwässer stofflich nutzbar zu machen.

Zukunftsvorstellungen beeinflussen Erwartungen

Die jeweiligen Zukunftsvorstellungen, die in einer Gesellschaft oder in Entwicklungslaboren als Visionen etwa zur Informationstechnologie, zu Energie oder Mobilität kursieren, beeinflussen ganz entscheidend das Verhalten und die Erwartungen der Nutzer, aber auch der Entwickler von Technik. Wissenschaftlich untersucht sind diese Technikzukünfte als wesentlicher Aspekt des technologischen Wandels allerdings kaum. „Dabei lassen sich die gesellschaftlichen Herausforderungen der Mobilitätswende, der Energiewende und der Datenwende doch nur mit Hilfe der Geisteswissenschaften lösen. Denn sie sind keine rein technischen Probleme“, ist Weber überzeugt.

Das im April gegründete ITZ hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, durch die Erforschung vergangener und gegenwärtiger „Technikzukünfte“ und der daraus resultierenden Technologieentscheidungen im Zusammenspiel der Disziplinen Philosophie, Soziologie und Geschichte ein tieferes Verständnis für die Wechselwirkungen technischer,  gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen zu erlangen. Die einmalige Möglichkeit am KIT, geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung mit den Ingenieur- und Naturwissenschaften zu koppeln, biete dafür ideale Voraussetzungen, meinen Weber und Popplow. hei

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