Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Wirtschaft in Deutschland seit Jahren nicht mehr wirklich vorankommt. Aber ist dieser Eindruck wirklich korrekt und von den Fakten gedeckt? Sieht man sich die Zahlen an, dann lautet die Antwort: ein bisschen von beidem.
Betrachtet man den großen Zeitraum zwischen 1950 und 2022, dann ist laut dem Statistischen Bundesamt Destatis die Wirtschaft um durchschnittlich 3,1 Prozent pro Jahr und damit mit einer robusten Rate gewachsen.
Sieht man sich aber den Durchschnitt der letzten beiden Jahrzehnte an, dann ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) tatsächlich nur noch um etwa ein Prozent pro Jahr angestiegen - was den oben erwähnten Eindruck bestätigt. 2023 ist das BIP sogar 0,3 Prozent gesunken.
Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung des Wirtschaftswachstums zwischen 1950 und 2022:
Gestützt wird die Einschätzung auch durch Zahlen des "World Competitiveness Ranking", das seit 1989 vom IMD World Competitiveness Center (WCC) veröffentlicht wird. Das IMD – International Institute for Management Development ist eine private Wirtschaftshochschule in Lausanne (Schweiz). Nach den jüngsten Zahlen des WCC von Mitte Juni 2024 ist Deutschland seit 2014 von Platz 6 auf jetzt Platz 24 abgerutscht. Für die Bewertung werden 365 Kriterien aus vier Bereichen herangezogen. Vergleichsweise gut ist die deutsche Platzierung bei Wirtschaftsleistung (Rang 13) noch relativ gut da. Ähnliches lässt sich aber nicht bei Infrastruktur (20), Effizienz der öffentlichen Hand (32) und wirtschaftliche Effizienz (35) sagen. Damit haben sich die Werte im Vergleich zum Vorjahr noch einmal deutlich verschlechtert.
Die Gründe für das nachlassende Wirtschaftswachstum seit der Jahrtausendwende hat mehrere Ursachen. Das eine sind globale Entwicklungen wie die Finanzkrise 2009 oder die Corona-Pandemie ab 2020, die sich national nur begrenzt beeinflussen lassen. Viele andere sind ein rein deutsches Problem und könnten durch gezieltes Handeln zumindest abgemildert werden. Hier sind 7 Gründe dafür, warum sich die deutsche Wirtschaft gerade so schwer tut:
Deutschland erfindet zu wenig
Deutschland, die Nation der Ingenieure, ist müde geworden im Erfinden. Laut Zahlen des Deutschen Patent und Markenamtes nimmt die Zahl der Patentanmeldungen durch Firmen mit Sitz in Deutschland seit 2016 kontinuierlich ab. Nach vorläufigen Zahlen für 2022 wurden in diesem Jahr nur noch 37.194 Patente angemeldet. 2001 waren es noch 52.650.
Der Patentindex des Europäischen Patentamtes (EPO) für 2022 bestätigen den Trend: Deutschland liegt zwar noch auf Platz 2 der größten Patentanmelder, hat aber im vergangenen Jahr einen Rückgang der Patentanmeldungen um 4,7 % zu verzeichnen. Zum Vergleich: die USA auf Platz 1 haben um 2,9 Prozent zugelegt, China auf Rang vier sogar um 15,1 %. Laut EPO ist der Rückgang in Deutschland vor allem auf die Bereiche Transporttechnologien (einschließlich Automobilindustrie), elektrische Maschinen/Geräte/Energie und organische Feinchemie zurückzuführen.
Allerdings bahnt sich in diesem Bereich möglicherweise eine Trendwende an: Für 2023 verzeichnet das EPO einen Anstieg der Patentanmeldung aus Deutschland um 1,4 %, das Deutsche Patent und Markenamt sogar um 1,6 %. Ob es sich dabei tatsächlich um eine langfristige Trendumkehr handelt oder nur um einen "Ausrutscher" bleibt abzuwarten.
Deutschland hängt digital weit zurück
Dass Deutschland in Sachen Digitalisierung nicht zu den "Vorreitern" gehört, dürfte allgemein bekannt sein. Wie weit es allerdings in manchen Aspekten zurückhängt, zeigt die Grafik unten, die auf Daten des Speedtest Global Index basieren. Das schnellste Festnetz-Internet gibt es demnach in Singapur: In dem ostasiatischen Land betrug die durchschnittliche Downloadrate der Internetanschlüsse im Mai 2024 laut Messungen auf speedtest.net rund 290 Megabit pro Sekunde (Medianwert). Deutschland belegt mit 90,44 Mbit/s gerade mal den 63. Platz im Ranking - 12 Plätze schlechter als noch Ende 2023. Ein wesentlicher Grund für die mäßige Geschwindigkeit der Internetanschlüsse in Deutschland ist die geringe Verbreitung von Glasfaseranschlüssen.
Deutschland fällt bei der Automatisierung zurück
Ein wichtiges Kriterium für den Automatisierungsgrad eines Landes ist die Roboterdichte. Deutschland lag hier zwar 2022 noch auf einem guten dritten Rang weltweit gesehen. Doch nach den jüngsten Schätzungen der International Federation of Robotics wird es voraussichtlich schon 2023 von diesem Platz verdrängt werden - und zwar von China.
„China wird damit einen höheren Automatisierungsgrad haben und das sollte uns zu denken geben“, sagte Patrick Schwarzkopf, Geschäftsführer des VDMA Robotik+Automation. Der Grund für die höhere Roboterdichte in China liegt Schwarzkopf zufolge daran, dass die Hauptanwenderbranchen – Consumer Electronics und die Automobilindustrie – sehr stark in der Volksrepublik vertreten sind.
Deutschland wird alt
Die Bevölkerung in Deutschland wird im Durchschnitt immer älter - wodurch zunehmend Arbeitskräfte fehlen. Die Überalterung der Gesellschaft hat mehrere Ursachen: Etwa eine wachsende Lebenserwartung in Folge verbesserter Ernährung und medizinischer Versorgung oder eine im Verlauf der Jahrzehnte stark zurückgegangene Geburtenrate. Die folgende Grafik des Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung zeigt sehr anschaulich, wie sich dadurch das Verhältnis von jungen und alten Menschen in Deutschland seit 1871 schon verschoben hat und weiter verschieben wird.
Deutschland ist unattraktiv für Einwanderung
Länder wie die USA oder Neuseeland haben es vorgemacht: Mit einer gezielten Einwanderungspolitik etwa von fachlich hochqualifiziertem Personal lässt sich wirtschaftlich Kapital schlagen. Mit dieser Erkenntnis tut sich Deutschland noch schwer. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung im Auftrag der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) liegt Deutschland nur auf Rang 15 bei der Attraktivität für Fachpersonal - weit abgeschlagen im Rennen mit durchaus vergleichbaren Ländern wie Schweden (2. Platz), die Schweiz (3.) oder den Niederlanden (9.).
Das Fazit von Ralph Heck, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung: "Deutschland braucht Fachkräfte auch aus dem Ausland, um seinen Wohlstand zu sichern. Der internationale Vergleich macht deutlich, was Deutschland tun muss, um die für unser Land so wichtige Fachkräftezuwanderung noch besser zu gestalten“. Gemeint sind damit Themen wie schleppende Digitalisierung, die gesellschaftliche Akzeptanz von Migrant:innen und ein Übermaß an Bürokratie.
Deutschland ist überreguliert
Ein Beleg für eine Überregulierung von Deutschland findet sich auch der Studie "Länderindex Familienunternehmen". Sie bewertet die Attraktivität des deutschen Standorts aus der Perspektive von großen Familienunternehmen nach verschiedenen Kriterien. Besonders schlecht schneidet Deutschland - das ja maßgeblich von mittelständischen Familienbetrieben geprägt ist - beim Thema Regulierung ab.
Für Familienunternehmen seien Regulierungsbarrieren von besonderer Bedeutung, weil sie durch ihre spezielle Eigentümerstruktur zumeist kurze Entscheidungswege aufweisen und schnell auf veränderte Umweltbedingungen reagieren können, so die Studie. Einschränkungen durch Regulierungen können diese Vorteile ganz oder teilweise wieder zunichtemachen.
An der Spitze in diesem Ranking liegen die USA mit einem Indexwert von 81,32 Punkten. Deutschland befindet sich im aktuellen Ranking auf Rang 19, um fünf Ränge verschlechtert gegenüber der Vergleichsrechnung für die Vorperiode. Die günstigsten Ergebnisse werden im Bereich „Arbeitsmarkt und Tarifrecht“ erzielt, wo sich Deutschland im Mittelfeld der Länderauswahl befindet. Vergleichsweise schlecht sind die Resultate hingegen in den Bereichen „Geschäftsgründung“, „Regulierungen im laufenden Geschäftsbetrieb“ und vor allem in der betrieblichen Mitbestimmung. Mit diesem Resultat befindet sich Deutschland in der aktuellen Rangliste unter den drei am stärksten regulierten Ländern der Länderauswahl und ist hinter das traditionell in der Schlussgruppe zu findende Italien zurückgefallen.
Deutschland benachteiligt Frauen
Bei der unterschiedlichen Bezahlung von Männern und Frauen für die gleiche Arbeit nimmt Deutschland in der Europäischen Union einen unrühmlichen drittletzten Platz ein. Der Unterschiede im Bruttostundenverdienst von 17,6 Prozent wird nur noch von Österreich und Estland übertroffen, wie die Grafik unten zeigt. Laut dem Wirtschaftforschungsinstitut DIW dämpft die Lohnlücke auch den Anreiz für Frauen, zu arbeiten oder mehr zu arbeiten, und das wiederum bedeute, dass Arbeitspotenzial, also Potenzial für Wachstum, brach liege.
In die gleiche Kerbe schlägt eine aktuelle Studie der acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften mit dem Titel Innovationssystem Deutschland: Die Fachkräftesicherung in Deutschland unterstützen: "Viel wäre zu holen, wenn mehr Teilzeitbeschäftigte ihre Arbeitszeit erhöhen können – das setzt bessere Angebote für Kinderbetreuung und Pflege voraus", so das Fazit der Autoren - denn diese unbezahlte Care-Arbeit wird zum weit überwiegenden Teil von Frauen geleistet.
Der Autor: Peter Koller
Gelernter Politik-Journalist, heute News-Junkie, Robotik-Afficionado und Nerd-Versteher. Chefredakteur des Automatisierungsmagazins IEE. Peter Koller liebt den Technik-Journalismus, weil es das einzige Themengebiet ist, wo wirklich ständig neue Dinge passieren. Treibstoff: Milchschaum mit Koffein.