Kennt noch jemand Wile E. Coyote? Den tragisch innovativen Zeichentrick-Kojoten, der stets erfolglos dem Roadrunner nachzustellen dachte. Mit immer wahnwitzig technischem Schnick-Schnack, geliefert von der Firma ACME (A Company that Manufactures Everything – quasi das Amazon der Cartoons), scheitert das selbsternannte Genie immer wieder. Und immer wieder fällt er am Ende einer Jagd in einen tiefen Canyon. Und das auch oft, weil ihm die Physik einen Streich gespielt hat und seine doch teils logisch anmutenden Apparate (unter anderem Fallschirme, Fluganzüge und Raketenrucksäcke) in absurd brutalen Unfällen enden ließ – was mit einem passenden „Yikes!“ kommentiert wurde.
Was hat das aber alles mit Franz Reichelt zu tun und wer ist das überhaupt? Franz Reichelt war – wie auch Wile E. Coyote ein selbsternanntes Genie. Er war begeistert von den Anfängen der Fliegerei, aber auch erschrocken von den allzu häufigen Todesfällen der tollkühnen Flieger in ihren fliegenden Kisten.
Im Jahre 1912 – Reichelt war zu dem Zeitpunkt 33 Jahre alt und seit vier Jahren französischer Staatsbürger – präsentierte der sicherheitsbewusste gelernte Schneider vor der versammelten Pariser Öffentlichkeit seinen Fallschirm-Anzug. Schick und sicher.
Es ist anzumerken, dass mit dem Anfang der Fliegerei Menschen zwar (motorisiert) zu fliegen begannen, ein Ausfall des Antriebs aber unweigerlich den Tod zur Folge hatte. Es gab einfach noch keine Schleudersitze oder funktionierenden Fallschirme. Das Fehlen dieses Sicherheitsmechanismus brachte viele mit der Fliegerei beschäftigten Institutionen dazu, Ausschreibungen und Preisgelder für eine solche lebensrettende Erfindung auszuloben. 10 000 Francs versprach der Aéro-Club France daher demjenigen, der innert drei Jahre einen funktionierenden Fallschirm – der weniger als 25 kg wiegt – präsentieren kann.
Auftritt Franz Reichelt. Der alleinstehende Schneider hatte zu dem Zeitpunkt schon einen ersten Protoytpen zusammengenäht. Dieser wog zwar 70 kg und – wie seine Nachbarn übereinstimmend aussagten, die immer wieder Zeuge seiner Tests vom Balkon des Mehrfamilienhauses waren – funktionierte aber nie so richtig gut. Franz passte sein Design also an und testete wieder. Auch gebrochene Gliedmaßen hielten ihn nicht davon ab, an seine Idee zu glauben.
Es liegt halt einfach daran, dass der Fallschirm nicht genug Fallhöhe hat, um sich richtig zu entfalten – daher konnten seine Tests aus 8 bis 10 Metern Höhe auch nicht funktionieren. Klar.
Die Filmaufnahmen von Franz Reichelts Experiment
Ein Genie muss hoch hinaus
Was macht man also, wenn man von seiner Idee mehr als überzeugt ist, in Paris wohnt, frischgebackener Franzose ist und der Welt zeigen will, wie Piloten dem sicheren Tod entgehen können (und 10 000 Francs gewinnen will)? Genau – man sagt der Presse, man habe eine Sprungtest-Erlaubnis des Magistrats erhalten und werde den Prototypen im Sprung vom Eiffelturm testen. Die Welt würde den Atem anhalten. Das tat sie auch.
Die Presse war begeistert – so sehr, dass man mit dem modernsten Gerät auffuhr, was es damals gab: Filmkameras. Plural!
Am Sonntag, dem 4. Februar 1912, war es dann so weit. Um 7 Uhr früh fuhr Reichelt mit seinen Freunden in einem Automobil auf dem Marsfeld vor. Es war kalt und es wehte eine steife Brise. Franz trug schon seinen Fallschirm-Anzug: Die Reporter sind begeistert. Sie werden schreiben, dass der Anzug nur ein wenig voluminöser als ein gewöhnlicher Straßenanzug sei und dass es den Träger kaum in seiner Bewegung einschränke. Absolut nachvollziehbar, wenn man die typische Kleidung dieser Zeitperiode ansieht – ich möchte nur mal kurz auf die Korsette der Damen hinweisen: Dagegen ist das Ding fast ein Jogging-Anzug.
Man öffnet den Fallschirm, indem man „einfach die Arme ausbreitet – dadurch wird der Schirm wie Fledermausflügel ausgebreitet. Hier bekommt man echte Batman-Vibes. Nur flößt mir der Anzug aus ganz anderen Gründen Angst ein. Man schätzt die Oberfläche des Anzuges auf etwa 30 m² und sein Gewicht auf etwa 9 kg – physikalisch gesehen also gar nicht mal so schlecht. Ein typischer moderner Tandemschirm hat eine Fläche von 400 sqft (etwa 37 m²).
Nun eröffnete Reichelt vor den Kameras und gezückten Blöcken der anwesenden Journalisten, dass er – persönlich – die Funktionsweise des Anzuges demonstrieren werde. Spätestens jetzt kamen einigen Anwesenden Zweifel an der Funktionstüchigkeit des Anzuges und Reichelts Selbsterhaltungstriebes. Aber Franz wollte sich – vielleicht auch nicht vor den laufenden Kameras – nicht umstimmen lassen:
„Sie werden sehen, wie meine 72 kg und mein Fallschirm Ihren Argumenten die entscheidende Absage erteilen werden“, verkündete er und nur wenige Minuten später sprang er, grinsend, vom ersten Deck des Eiffelturms 57 m in die Tiefe – dem gefrorenen Boden entgegen. Der Anzug des tapferen Schneiders öffnete sich nur halb, wickelte sich im Sturz um seinen Körper, der final vom Pariser Boden gebremst wurde und eine 18 cm tiefe Mulde hinterließ.
Der Körper des unglücklichen Erfinders war nur noch eine unförmliche Masse.
„Yikes!“
Der Autor Bernhard Richter ist verantwortlicher Redakteur für die keNEXT. Er beschreibt sich selbst als besserwisserischer olivgrün angehauchten Nerd-Metaller mit einem Hang zu allem Technischen, Faszinierendem, Absurden. Das ganze gepaart mit einem deftigen Schuss schwarzem Humor. Der studierte Magister Anglistik, Geschichte und Ethnologie hat mittlerweile schon einige Jahre (Fach-) Journalismus auf dem Buckel, kennt aber auch – dank Ausflug in die PR – die dunkle Seite der Macht.
Privat findet man ihn oft in Feld und Flur – aber auch auf dem Motorrad, in der heimischen Werkstatt Wolfsburger Altmetall restaurieren oder ganz banal (mit Katze auf dem Schoß) vorm Rechner, zocken.