Alles hat seine Zeit. Auch der intelligente Linearantrieb. Denn im Grunde ist es ja so: Linearmotoren gibt es schon lange. Auch die Idee, das Prinzip umzudrehen, viele Spulen zu verwenden, um einen kleinen Permanentmagnetschlitten – das Shuttle – ohne Kabel bewegen zu können, ist schon älter.
Der Teufel steckt wie immer im Detail. In diesem Fall in der Fähigkeit, all die Spulen intelligent so anzusprechen, dass einzelne Shuttles separat in Geschwindigkeit und Richtung steuerbar sind. Erst die dramatisch angestiegene Rechenleistung von Steuerungen und Industrie-PCs hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass entsprechende Systeme auf den Markt kamen. Daher scheint die Zeit für Langstator-Linearantriebe genau jetzt gekommen. Und weil das flexible Transportkonzept so viele neue Freiheitsgrade im Maschinendesign eröffnet, ist das Interesse im Markt natürlich hoch.
Die Vorteile sind enorm: Die Shuttles lassen sich einzeln ansteuern, aber auch gruppiert in festem Abstand fahren, sodass mehrere Shuttles ein größeres Werkstück oder Produkt transportieren. Die Geschwindigkeit kann variieren und mit Bearbeitungsstationen oder Robotern synchronisiert werden. Langsamere Stationen können mehrfach hintereinander angeordnet werden und seriell von entsprechenden Shuttles angefahren werden, um parallel bearbeitet zu werden. Insgesamt ermöglichen derartige Systeme eine enorme Dynamik.
Eine neue Generation in den Startlöchern
Der Automatisierungsspezialist B&R hat zusammen mit seinem Partner ATS schon seit einigen Jahren ein derartiges System unter dem Namen SuperTrak im Programm und serienmäßig verfügbar. Die Logistikmodule sind bewährt, sehr präzise und vor allem für schwerere Produkte bis zehn Kilogramm pro Shuttle gedacht. Entsprechend werden diese Geräte vor allem in der Montageautomation eingesetzt, wo auch schwere Metallteile transportiert werden müssen. Doch es gibt auch andere Einsatzbereiche, Food and Beverage zum Beispiel oder die Verpackungsindustrie. Hier geht es darum, sehr viele Produkte in engen Abständen zu transportieren, die geforderten Durchsatzraten sind sehr hoch. Für diese Zwecke hat B&R ein neues Pferd im Rennen: Acopostrac (ACOPOStrak in der firmeninternen Schreibweise).
Ein Smartphone in jedem Schienenteil
„Wir haben unseren Kunden mit dem neuen System einen lange gehegten Wunsch erfüllt“, erklärt Robert Kickinger, bei B&R im Vertrieb für die Linearantriebstechnik verantwortlich. „Es hieß immer: Wir wollen einen Materialfluss zusammenführen und wieder teilen können! Das war einer der meist genannten Wünsche bei Kundenbefragungen. Und den haben wir jetzt erfüllt“, betont Kickinger. Schlüssel zu dieser Fähigkeit sind die elektromagnetische Weiche auf der einen und besonders intelligente Schienenmodule auf der anderen Seite. Denn, man höre und staune, in jedem Schienenmodul von Acopostrak befindet sich die Rechenleistung eines modernen Smartphones.
Die ist nötig, um das System flexibel und skalierbar zu machen. Technisch gesehen befinden sich in jedem Schienenmodul ja etliche Servoachsen samt Servoregler, Sensorik und Auswerteelektronik. Zusätzlich eine Kommunikationsschnittstelle zu den Nachbarsegmenten und nach oben.
Die hohe Rechenleistung in den einzelnen Motorsegmenten macht zwar die Hardware teurer, ermöglicht aber die Skalierbarkeit für weit ausgedehnte Tracks und vereinfacht das Engineering massiv. Da heutzutage aber der Engineering-Aufwand in vielen Projekten die Kosten der Hardware bereits übersteigt, ist die dezentrale Intelligenz von Acopostrak am Ende dennoch ein Mittel, um Kosten zu sparen. Schließlich benötigt man zur Steuerung des Logistik-Prozesses einer solchen Anlage dann nur noch einen einzigen, normalen Industrie-PC.
Zudem sind die Programmiermöglichkeiten deutlich einfacher, weil man nicht mehr jedes einzelne Shuttle als Einzelachse programmieren muss. Ein Vorteil hierbei ist, dass B&R auf das hauseigene Kommunikationssystem Powerlink setzt, eine Querkommunikation ermöglicht, sodass die Segmente direkt miteinander sprechen.
Die schnelle Weiche schafft Flexibilität
Was Acopostrak unter anderem von vorhandenen Systemen am Markt unterscheidet, ist die elektromagnetische Hochgeschwindigkeitsweiche. Sie ermöglicht es, Produktströme bei voller Transportgeschwindigkeit zu trennen oder zu vereinen. Das eröffnet tatsächlich neue Prozessflusskonzepte und eine bislang nicht dagewesene Designflexibilität in der Anlagenkonzeption. So können langsamere Bearbeitungsstationen echt parallelisiert werden, verschiedene Produktvarianten können auf einer Linie gefahren werden und in einer Art Boxengasse können Problemteile ausgeschleust oder neue Aufträge bereits während der laufenden Produktion gerüstet werden –ohne jeden Stillstand.
Aber wie funktioniert die neue Weiche? Schlüssel ist auch hier die Intelligenz in den Segmenten. „Es ist die große kreative Leistung unserer Entwicklungsabteilung, dass sie das Prinzip der Feldschwächung, heute in besseren Servoantrieben sehr weit verbreitet, auf den Langstator-Linearmotor angewendet hat,“ erklärt Kickinger. „Das Funktionsprinzip der Weiche ist, dass ich die Anziehungskraft von Motorkämmen auf das Shuttle gezielt verändere. Dadurch entsteht eine Netto-Kraftwirkung, die dazu führt, dass sich das Shuttle an den gewünschten Motorkamm anlegt.“ Auf diese Weise können die Shuttles bei voller Fahrt auf einer Überlappungsstrecke von nur 90 Millimetern von einer Schiene auf die andere gelenkt werden.
Vor allem in Industrie-4.0-Anlagen, auf denen individualisierte Produkte im Großserienstil gefertigt werden sollen, ist die neue Technik von Nutzen. Durch die für alle Produkte identischen Fertigungsschritte sausen die Warenträger in nur einer Spur, und dort, wo kundenindividuell eingegriffen wird, werden die Warenströme aufgeteilt, separat bearbeitet, um später für Verpackung und Versand wieder auf der Hauptlinie zu landen. Neben der erhöhten Flexibilität kann das Konzept zudem die Verfügbarkeit erhöhen: Kritische Stationen können parallel redundant ausgelegt werden. Falls eine der Stationen ausfällt, kann die Anlage mit reduzierter Kapazität weiter betrieben werden.
Simulation und digitaler Zwilling
Um diesen Vorteil sinnvoll und vor allem einfach nutzen zu können, bietet B&R eine Softwareumgebung an, die bei der Programmierung nicht zwingend auf die Sollwerte der einzelnen Shuttles fokussiert, sondern eine Ebene höher ansetzen kann. Dadurch können sich die Entwickler vorwiegend auf den Prozess konzentrieren. Hinzu kommt ein digitaler Zwilling, innerhalb dessen die gesamte Maschine oder Anlage vorab samt Bearbeitungsstationen entworfen und simuliert werden kann, bevor sie in echter Hardware umgesetzt wird. Das verkürzt die Time to Market und hilft, Fehler zu vermeiden.
„Die prozessorientierte Programmierung ist etwas, was unsere Kunden wirklich schätzen“, führt Robert Kickinger aus, „weil immer mehr in Softwarefunktionalität abgebildet wird und dadurch der Aufwand, Software zu programmieren und zu pflegen, beträchtlich steigt.“ Wer das selber probieren will, der kann bei B&R nachfragen: Acopostrak ist als Prototyp verfügbar, der Serienstart soll im Herbst sein.