
Am 13. Juli 1978 durchschlug ein Protonenstrahl den Kopf des russischen Physikers Anatoli Bugorski, aber er überlebte. (Bild: gemeinfrei)
Anatoli Petrowitsch Burgorski lebt noch. Ungleich vieler anderer in dieser Serie von Konstruktion from Hell, lebt er noch. Hoffentlich. Seit dem Angriff auf die Ukraine sind Informationen aus Russland noch unzuverlässiger geworden. Wir gehen vom Positiven aus.
Und: Der heute 82-Jährige ist einzigartig. Er hat etwas erlebt (und überlebt), was vor und nach ihm – bis jetzt – nie ein Mensch erlebt hat. Was er sah, war heller als eintausend Sonnen. Und sein persönliches Tschernobyl. Er ist der einzige Mensch, der eine Frage beantworten kann, die man so eigentlich nicht stellen will: Was passiert, wenn ich meinen Kopf in einen Teilchenbeschleuniger stecke?
Die Antwort sollte einfach und einsilbig ausfallen, mit Worten wie ‚nicht gut‘ und ‚tot‘. Anatoli Burgorski aber lebt noch. Daher stellt sich die nächste Frage:
Warum?

Der tödlichste Lichtstrahl der Welt
Mehrere Warums, um genau zu sein. Warum hat er das gemacht? Warum konnte das passieren und warum ist er eben nicht tot? Der Reihe nach.
Als Wissenschaftler am Institut für Hochenergiephysik in Protvino, 100 km nördlich von Moskau, arbeitete Anatoli Bugorski mit dem größten Teilchenbeschleuniger der Sowjetunion, dem Synchrotron U-70. Am 13. Juli 1978 überprüfte Bugorski ein defektes Gerät, als die Sicherheitsmechanismen ‚versagten‘. Wie das Protokoll vorsah, gab er per Telefon dem Beam-Operator Bescheid, dass er sich auf den Weg in die Strahlenkammer macht. Der Beam-Operator muss das wissen, denn der U-70-Teilchenbeschleuniger war zum Zeitpunkt seiner In-Dienst-Stellung der stärkste der Welt und in Betrieb. Mit einem Protonen-Strahl von bis zu 76 GeV hielt er den Weltrekord. Heute zählt der U-70 nicht mehr zu den leistungsstärksten Beschleunigern, da modernere Anlagen wie der Large Hadron Collider (LHC) in ganz anderen Energiebereichen arbeiten (bis zu 13 TeV). Sicherheitstechnisch war der russische Beschleuniger auch eher auf der unteren Hälfte der Skala angesetzt – aber hey, es waren die 70er, da brauchte man sich im Auto auch noch nicht anzuschnallen. (Na gut, seit 1976 muss man sich anschnallen – aber erst seit 1984 kostet es eine Strafe.)
Der Protonenstrahl des U-70 ist aber nicht immer eingehaust, sprich in der Strahlenkammer durchquert er einfach so den Raum. Was HÄTTE also passieren sollen? Der Beam-Operator HÄTTE den Strahl abschalten sollen, da er wusste, dass Anatoli sich auf den Weg macht. Die Tür zur Kammer HÄTTE verschlossen sein sollen und ein Schild mit der Aufschrift ‚Achtung aktiver Protonen-Strahl! Nicht eintreten!‘ HÄTTE rot leuchten sollen. HÄTTE.
Keine Schmerzen, keine Warnung – nur pures Pech

Murphys Gesetz sagt, dass alles, was schiefgehen kann, schiefgehen wird. Und das tat es auch an diesem Tag, als ein hochenergetischer Protonen-Strahl in den Kopf eines Physikers schoss.
Anatoli sagte dem Kontrollraum zwar Bescheid, war aber etwas früher da als gedacht. Das Schloss der automatisch verriegelnden Tür war abgeklemmt. Vor einiger Zeit fanden Experimente mit einem Niedrigenergie-Strahl statt und irgendjemand dachte sich wohl, dass es zu viel des Guten sei, immer diese nervige Tür abzuschließen. Und was war mit dem Warnschild, das mit der roten Lampe? Ja, die war durchgebrannt.
In der Kammer strahlten 76 GeV an Protonenstrahlung durch den Raum. Das muss er doch gesehen haben, oder? Die beiden Techniker an Bord des Todessterns haben doch auch den grünen Laserstrahl gesehen, der den Planeten Alderaan vernichtete.
Leider ist Realität wesentlich unspektakulärer als Science-Fiction-Filme – der Strahl ist unsichtbar und macht keinen Ton. Und dieser pulsierende Strahl Energie befand sich genau zwischen Anatoli und dem Ort, zu dem er musste. Als er sich bückte, um ein Gerät zu überprüfen, wie er es schon unzählige Male getan hat, wurde er geblendet. Milliarden von Protonen, die alle mit annähernd Lichtgeschwindigkeit unterwegs waren, durchquerten seinen Kopf. Jedes dieser subatomaren Partikel hat eine Energie von 70 000 000 000 eV. Und doch, so ein späterer Bericht, fühlte er keinen Schmerz.
Nachdem er sich von einem ersten Schreck erholt hatte, wusste er, dass er ein Problem hatte. Dennoch: Pflichtbewusst beendete er seine Arbeit, füllte er das Logbuch aus und ging nach Hause – ohne jemandem davon zu erzählen, was geschehen ist.
Am nächsten Morgen wachte er mit einer geschwollenen Gesichtshälfte auf. Der junge Wissenschaftler wurde in eine Moskauer Klinik gebracht, und die Ärzte rechneten mit dem Schlimmsten. Ionisierende Strahlungsteilchen wie Protonen richten im Körper verheerende Schäden an. In Bugorskis Fall konzentrierte sich die Strahlung jedoch in einem schmalen Strahl, nicht mehr als 2 x 3 mm im Durchmesser, durch den Kopf, anstatt sich durch nuklearen Fallout breit zu verteilen, wie es bei vielen Opfern der Katastrophe von Tschernobyl oder der Bombardierung von Hiroshima der Fall war. Bei Bugorski dürften besonders empfindliche Gewebe wie Knochenmark und Magen-Darm-Trakt weitgehend verschont geblieben sein.
Dort aber, wo der Strahl Bugorskis Kopf durchschlug, setzte er eine unglaubliche Menge an Strahlungsenergie frei, die nach einigen Schätzungen die tödliche Dosis um das Hundertfache überstieg. Und doch lebt Bugorski noch heute. Seine Gesichtshälfte ist gelähmt, was ihm ein seltsam jugendliches Aussehen verleiht. Auf einem Ohr soll er taub sein. Es gibt keine Berichte darüber, dass bei Bugorski jemals Krebs diagnostiziert wurde. Obwohl sein Gehirn von nichts Geringerem als einem Teilchenbeschleunigerstrahl durchschossen wurde, blieb Bugorskis Intellekt intakt, und er schloss nach dem Unfall sogar noch erfolgreich seine Promotion ab.
Die Antwort auf die Frage nach dem ausgebliebenen Ableben Anatoli Burgorskis bleibt offen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Protonen-Strahl so schnell war, dass die Partikel ihre Energie nicht im Kopf des Wissenschaftlers abgeben konnten. Die geringe Masse seines Gehirns war nicht ausreichend, um die Partikel abzubremsen.
Sein Glück.

Der Autor Bernhard Richter ist verantwortlicher Redakteur für die keNEXT. Er beschreibt sich selbst als besserwisserischer olivgrün angehauchten Nerd-Metaller mit einem Hang zu allem Technischen, Faszinierendem, Absurden. Das ganze gepaart mit einem deftigen Schuss schwarzem Humor. Der studierte Magister Anglistik, Geschichte und Ethnologie hat mittlerweile schon einige Jahre (Fach-) Journalismus auf dem Buckel, kennt aber auch – dank Ausflug in die PR – die dunkle Seite der Macht.
Privat findet man ihn oft in Feld und Flur – aber auch auf dem Motorrad, in der heimischen Werkstatt Wolfsburger Altmetall restaurieren oder ganz banal (mit Katze auf dem Schoß) vorm Rechner, zocken.