Wie KI im Engineering die Produktentwicklung verändert

„KI ist Change Management – in Lichtgeschwindigkeit“

Künstliche Intelligenz ist im industriellen Umfeld längst mehr als ein Modewort. Auf der Automation NEXT Conference 2025 zeigte Dr. Axel Zein, CEO der WSCAD GmbH, aus Herstellerperspektive, wie sich Engineering-Prozesse durch KI nicht nur optimieren, sondern grundlegend verändern lassen.

In zwei Minuten vom Schaltplan zum fertigen Schaltschrank – KI kann im Engineering zum echten Gamechanger werden, wie der Vortrag auf der Automation NEXT Conference 2025 zeigte.
In zwei Minuten vom Schaltplan zum fertigen Schaltschrank – KI kann im Engineering zum echten Gamechanger werden, wie der Vortrag auf der Automation NEXT Conference 2025 zeigte.

Sein Vortrag mit dem Titel „Lichtgeschwindigkeit im Engineering durch KI“ war ein offener Erfahrungsbericht über technologische Entscheidungen, organisationale Voraussetzungen und kulturelle Faktoren, die aus seiner Sicht über Erfolg oder Misserfolg von KI-Projekten entscheiden.

Was ist eigentlich KI – und was nicht?

Zu Beginn seines Vortrags räumte Zein mit einem verbreiteten Missverständnis auf: Nicht jede Software, die sich „KI“ nennt, erfüllt aus technischer Sicht auch diese Kriterien: „Im Wesentlichen ist KI in der Basis Machine Learning – maschinelles Lernen. Und man kann sagen: If it’s not machine learning, it’s not AI.“

Maschinelles Lernen bedeute, Muster in Daten zu erkennen, um belastbare Vorhersagen treffen zu können. Zein erläuterte dies anhand eines einfachen Beispiels: Erst wenn ausreichend Daten vorliegen, lasse sich ein Muster erkennen – und genau darin liege der Kern von KI. Darauf aufbauend kämen Deep-Learning-Ansätze mit neuronalen Netzen sowie sogenannte Foundation Models wie Large Language Models, die heute unter dem Begriff „Generative AI“ bekannt sind.

„Sie generieren aus vorhandenen Inhalten neue Inhalte – und das ist das, was wir aktuell bei ChatGPT und ähnlichen Systemen sehen.“

KI im Elektro-CAD: Vom Schaltplan zum fertigen Schaltschrank

WSCAD entwickelt Elektro-CAD-Software für die Planung elektrischer Anlagen – von Maschinen und Testständen bis hin zur Gebäudeautomation. Genau hier setzt der KI-Einsatz des Unternehmens an. Zein beschrieb einen typischen Arbeitsprozess in der Elektrokonstruktion: Nach dem Erstellen des Schaltplans folgt die aufwendige Planung des physischen Schaltschranks – ein Arbeitsschritt, der je nach Erfahrung mehrere Stunden bis zu einem ganzen Arbeitstag in Anspruch nehmen kann.

Mit der KI-gestützten Lösung wie der von WSCAD lässt sich dieser Prozess weitgehend automatisieren. „Sie markieren einfach Ihre Seiten und sagen: Generate Cabinet. Was im Hintergrund passiert: Das System analysiert den Schaltplan, erkennt alle Komponenten, wählt die passende Montageplatte, zieht Hutschienen, platziert die Komponenten – und nach zwei Minuten ist das Ergebnis da.“

Dabei bleibt der Konstrukteur jederzeit Herr des Prozesses. Iterative Anpassungen, manuelle Platzierungen einzelner Komponenten oder spezifische Vorgaben für bestimmte Schaltschränke sind weiterhin möglich. Auch Verdrahtung, Routing und die Prüfung der Kabelkanalauslastung werden automatisiert berücksichtigt.

Der Effekt: „In der Regel brauchen Sie sechs Stunden für so ein Ding – jetzt sind Sie in zwei Minuten durch.“

Von der Vision zur marktreifen Lösung

Was Zein ausdrücklich betonte: Die beschriebenen Funktionen sind keine theoretischen Zukunftsvisionen. WSCAD begann 2023 mit der Entwicklung, brachte 2024 die erste Version auf den Markt und stellt nun die zweite Generation der Software vor. Kundenberichte aus der Praxis zeigen deutliche Effekte: „Meine Projektlaufzeit hat sich um 50 Prozent verkürzt“, zitierte Zein einen Anwender. Übersetzt bedeute das: Mit der gleichen Mannschaft lasse sich nahezu die doppelte Leistung erbringen.

Diese Entwicklung blieb auch außerhalb der Kundschaft nicht unbeachtet. WSCAD wurde unter anderem mit einem Award des Fachmagazins Schaltschrankbau für KI-Technologie sowie als innovatives mittelständisches Unternehmen ausgezeichnet.

KI-Entwicklung als Chefsache – und Raum für Experimente

Dr. Axel Zein während seines Vortrags auf der Automation NEXT Conference 2025.

Die Entstehungsgeschichte der KI-Funktionen beschreibt Zein bewusst als „Chefsache“. Ein erstes Team erhielt den klaren Auftrag, innerhalb von zwei Monaten einen Proof of Concept für einen KI-Copiloten zu entwickeln. Parallel dazu arbeitete ein zweites Entwicklerteam ohne offiziellen Auftrag an einem alternativen Ansatz – inspiriert von Modellen wie der „20-Prozent-Zeit“ aus dem Silicon Valley.

Beide Ansätze führten zu verwertbaren Ergebnissen. Entscheidend war jedoch eine frühe Erkenntnis: „Der Mehrwert entsteht dann, wenn KI die Geschäftsziele unterstützt.“

Im Fall von WSCAD bedeutet das, Elektrokonstrukteure schneller, effizienter und stressfreier arbeiten zu lassen – insbesondere jene 80 %, die nicht täglich mehrere Stunden im System verbringen und komplexe Menüstrukturen auswendig kennen.

Ein prägnantes Beispiel ist die automatisierte Stücklistenerstellung: Wo Wettbewerbssoftware zahlreiche Klicks erfordert, genügt hier ein einfacher Befehl. „Generate BOM – erledigt. Das kann der Lehrling machen. Dafür müssen Sie keinen Konstrukteur beschäftigen.“

Lessons Learned: Was KI-Projekte wirklich brauchen

Einen zentralen Teil seines Vortrags widmete Zein den „Lessons Learned“ aus der eigenen Entwicklung – und den typischen Fehlern, die Unternehmen vermeiden sollten:

  • Datenqualität: „Sie brauchen saubere Daten. Starten Sie heute, nicht morgen.“
  • Koalition der Willigen: Kleine, motivierte Teams mit Fachwissen und Nutzerperspektive sind entscheidend.
  • Tempo und Transparenz: Kleine Teams, klare Ziele, schnelle Iterationen.
  • Fehlerkultur: „Unser ursprüngliches Modell haben wir achtmal verworfen.“ Ein Vorgehen, das in vielen Organisationen kaum denkbar sei.
  • Fokus auf Kundennutzen: Technische Raffinesse ohne klaren Mehrwert interessiert am Ende niemanden.

Zein ordnete KI klar als eine Form von Change Management ein – allerdings „in Lichtgeschwindigkeit“. Technologien, die vor einem Jahr noch unmöglich erschienen, seien heute problemlos umsetzbar. Unternehmen müssten lernen, mit dieser Dynamik umzugehen.

Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil

Warum KI bei WSCAD funktioniert hat, erklärt Zein weniger mit Technologie als mit Unternehmenskultur. Leistung werde nicht nur an Ergebnissen, sondern auch am Verhalten gemessen. Zu den zentralen Prinzipien zählen Fokus auf Wesentliches, die Verpflichtung, Neues auszuprobieren, sowie die ausdrückliche Erlaubnis zu scheitern.

Und besonders wichtig sei Zusammenarbeit: „Es gibt keine einzelne Person, die heute alles überblickt.“ Elektrokonstruktion, Fluidtechnik, Verfahrenstechnik, Gebäudeautomation und KI müssten zusammengedacht werden – nicht in isolierten Silos.

Respekt spiele dabei eine zentrale Rolle: Andere Meinungen seien ausdrücklich erwünscht, auch gegenüber der Geschäftsführung. „Man kann auch gerne mit mir streiten – aber respektvoll.“

Ist KI ein Jobkiller? Eine klare Einordnung

Die Frage, ob KI Arbeitsplätze vernichtet, beantwortete Zein eindeutig und unter Verweis auf Zahlen des World Economic Forum: Zwar würden bis 2030 rund 92 Mio. Jobs wegfallen, gleichzeitig entstünden jedoch etwa 170 Mio. neue – ein deutliches Netto-Plus.

Entscheidender sei ohnehin die qualitative Veränderung der Arbeit. Für Konstrukteure bedeute KI vor allem die Entlastung von Routineaufgaben: Teile suchen, Makros einfügen, Stücklisten erstellen, Normen prüfen, Änderungen manuell nachziehen. „Die Rotzarbeit – die will sowieso keiner machen.“

Stattdessen verlagere sich die Rolle hin zur Steuerung und Kontrolle von KI-gestützten Prozessen. Konstrukteure würden produktiver, hätten mehr Freiraum und könnten sich wieder auf das konzentrieren, was ihren Beruf ausmacht.

Drei zentrale Botschaften zu KI im Engineering

  1. Tempo zählt: Der Wettbewerb schläft nicht – auch wenn Europa in Teilen noch zögert.
  2. Teaming ist entscheidend: Fachdomäne und Softwareentwicklung müssen eng verzahnt sein.
  3. Menschen mitnehmen: Jede KI-Einführung verändert Jobs – intern wie extern. Diese Veränderung muss erklärt und gestaltet werden.