Schaltschrankfertigung
Ein Werk, in dem Industrie 4.0 entsteht
Im neuen Rittal-Werk in Haiger stellen Menschen und Maschinen gemeinsam eine neue Generation von Schaltschränken, die allen Anforderungen der Digitalisierung gewachsen ist, her. Gleichzeitig ist das hoch automatisierte Werk selbst in die gesamte digitale Wertschöpfungskette eingebettet.
Fast lautlos rollt das Fahrzeug durch die hohe Werkshalle, ohne Fahrer, ohne Fernbedienung. Es weiß, was es tun soll, und steuert sich selbst. Auf dem flachen Gefährt steht eine Palette mit fertig konfektionierten und folierten Bauteilen für einen kompakten Schaltschrank – den neuen AX. Der fahrerlose Transporter bringt das Paket zur Rollbahn, die ins Lager führt. Immer wieder queren Werksarbeiter den Weg und schauen dem Gespann nach. Denn für alle Beteiligten ist das hier Neuland: Das Rittal-Werk am Standort Haiger in Hessen wurde auf der grünen Wiese geplant und binnen knapp zweieinhalb Jahren fertiggestellt – voller neuester Technologie und mit Anbindung an das große Rittal-Datennetzwerk. Aktuell befindet sich das weltweit modernste Werk für Kompaktschaltschränke im sogenannten Ramp-up, in der Anlaufphase.
„Gerade bringen wir die Maschinen auf Touren, das heißt sie werden vernetzt, abgestimmt, feingetunt“, erklärt Werksleiter Oliver Poth. Er hat den gesamten Bauprozess mitgestaltet. Durch das Fenster seines Büros blickt er auf eine fertige Produktionsstraße. Bei voller Auslastung laufen hier täglich 9000 Schaltschränke vom Band. In seinen Augen blitzt Begeisterung auf, wenn Poth berichtet, wie viele Informationen unsichtbar zwischen den Maschinen ausgetauscht werden. „Hier entsteht Industrie 4.0“, sagt er stolz.
Bekenntnis zu Deutschland
Mit der Grundsteinlegung am 19. August 2016 begann die Realisierung des ambitionierten Projekts. Schon in der Bauphase des Werksgebäudes wurde die größte Anlage integriert: die Lackiererei, durch die alle Schaltschränke hindurch müssen. Hier werden sie mit ihrer unverwüstlichen Außenhaut versehen, egal, ob mit dem Standardgrau 70/35 oder einer frei wählbaren Farbe. Im April 2018 kamen die weiteren Gewerke hinzu: Logistik und Maschinen. Jetzt, im fertigen Zustand, arbeiten im Werk mehr als 100 Hightechmaschinen und Anlagenkomponenten auf 24.000 Quadratmetern. Die Produktionsfläche ist auf zwei Ebenen verteilt. Daneben verfügt das Werk über einen 1000 Quadratmeter großen Sozialbereich mit Duschen und Umkleidemöglichkeiten, den sogenannten Rucksack. Insgesamt sind knapp 1000 Mitarbeiter am Standort Haiger beschäftigt, neben der Produktion auch im Lager, dem Logistikzentrum und dem Verwaltungstrakt.
Die Mitarbeiter sind einer der Gründe, warum Rittal in Haiger die größte Investition der Unternehmensgeschichte verwirklicht hat: Über 250 Millionen Euro hat das Unternehmen in die neue Fertigungsstätte und das angeschlossene Logistikzentrum gesteckt. Dieses starke Bekenntnis zum Standort Deutschland und zum Standort Mittelhessen begründet Carsten Röttchen, Geschäftsführer Produktion bei Rittal, mit der hervorragenden Qualifikation der Mitarbeiter vor Ort. 55 Beschäftigte hat das Unternehmen hier in den vergangenen zwei Jahren zum Anlagenführer weitergebildet. Denn auch ein hoch automatisiertes Werk kommt nicht ohne Menschen aus. Werksleiter Poth: „Bei voller Auslastung fahren wir einen Dreischichtbetrieb.“ Mensch und Maschine stellen dann gemeinsam eine neue Generation von Schaltschränken in Klein- und Kompaktgröße her: den AX und den KX. Der AX wird künftig den AE ersetzen – der Schaltkschrankklassiker von Rittal seit 1961, von dem weltweit mehr als 35 Millionen Exemplare im Einsatz sind – von Skiliftstationen bis zu Containerschiffen. Kein Wunder also, dass der Hersteller bereits vom „neuen Original“ spricht. „Damit unsere Kunden auch europaweit innerhalb von 24 Stunden Kompaktschaltschränke erhalten können, haben wir dieses Werk errichtet“, erläutert Röttchen. „Wir denken da vom Kunden zum Kunden: Die gesamte Logistik von Konfiguration und Auftrag bis zur Lieferung wird durch dieses Werk noch besser.“
Die Digitalisierung als prägendes Umfeld
Schaltanlagenbauer setzen kompakte Schaltschränke heute anders ein als noch vor zehn Jahren. Und erst recht anders als vor 50 Jahren, als der AE zum ersten Mal vom Band lief. Die Digitalisierung prägt heute das Umfeld der Gehäuse und damit den Schaltanlagenbau. Mehr Elektronik benötigt mehr Kabel für die Vernetzung. „Beim AX bauen wir das System weiter aus: Mit weniger Teilen und mehr Bauraum wird höhere Flexibilität erzielt“, sagt Röttchen. Damit reihen sich die Optimierungen am Produkt in die digitale Lieferkette ein. Den Kunden stehen während der Konfiguration und Bestellung bereits hochwertige 3D-Daten zur Verfügung, die sie im Eplan-Data-Portal finden und mit deren Hilfe sie im Rittal-Configuration-System ihren AX oder KX erstellen können. Währenddessen entsteht der digitale Zwilling des Produkts, mit dem später der Schaltschrankbauer seine Bearbeitungsautomaten füttern kann. Außerdem wird er Teil der eindeutigen Seriennummer, die zusammen mit allen anderen Daten mittels Engineering und QR-Code auf dem Gehäuse einfach zuzuordnen ist. Die Bestellung erfolgt im Online Shop. Die Bestelldaten der Serienmodelle laufen automatisch und ohne Unterbrechung direkt ins Global Distribution Center, das ebenfalls voll automatisiert arbeitet. Die Verfügbarkeit der Produkte kann direkt bei Bestellung abgeglichen werden. „Indem das Werk an den gesamten Datenfluss zwischen Kunde, Vertrieb, Produktion und Auslieferung angeschlossen ist, wird es Teil des digitalen Auftrags- und Lieferprozesses“, sagt Röttchen. „Für unsere Kunden bedeutet das bessere Verfügbarkeit.“
Miteinander vernetzte Maschinen
Auch die Maschinen im Werk sind miteinander vernetzt und tauschen gegenseitig pausenlos Daten aus. Das ist einerseits notwendig für aktuelle Produktionsrozesse. Andererseits werden zukünftig durch künstliche Intelligenz die erzeugten Daten zeitgleich auf Muster abgeglichen und Störfälle antizipiert, bevor sie auftreten. Neu sind nicht nur die Produkte, auf dem neuesten Stand ist auch die Produktionstechnik. Beispielsweise beim Verarbeiten der riesigen Coils, der Grundlage jedes Schaltschranks Dabei ist eine Verbundanlage im Einsatz, in der parallel ein Laser-Cutter im Verbund mit Stanz- und Abstapelprozessen das Vorprodukt verwirklicht. Dies sorgt für schnellere Reaktionszeiten. „Durch neueste Produktionstechnik sind wir deutlich flexibler und können noch schneller auf Kundenanforderungen reagieren. Das macht das Werk dauerhaft zukunftsfähig und die Produkte, die dort entstehen, selbst zu hochqualitativen Werkstücken“, sagt Röttchen. Mittlerweile hat der fahrerlose Transporter die ihm anvertrauten Werkstücke abgeladen. Zwischen unterschiedlichen Maschinen läuft das Paket über die Rollbahn in Richtung Hochregallager. Das Transportfahrzeug ist schon wieder auf dem Weg zum nächsten Auftrag. aru