TU-4

Die Tu-4 war eine exakte Kopie der amerikanischen ­Boeing B-29 ‚Superfortress‘, die aus ­beschlagnahmten Flugzeugen, die in der UdSSR notgelandet waren, nachgebaut worden war. (Bild: gemeinfrei)

Am 3. August 1947 strömten Tausende von Menschen zum Flugplatz Tuschino, um die Parade zum ‚Tag der sowjetischen Luftfahrt‘ zu bestaunen. Unter den Zuschauern befand sich auch Joseph Stalin, der sichtlich zufrieden war. Und das aus gutem Grund: Drei neue sowjetische Bomber eröffneten das Spektakel – und sorgten für große Verwirrung unter den ausländischen Beobachtern. Denn diese Flugzeuge sahen nicht einfach nur ähnlich, sondern exakt so aus wie die amerikanische Boeing B-29 ‚Superfortress‘.
Während des Zweiten Weltkriegs waren drei solcher US-Bomber in der UdSSR notgelandet, und die Amerikaner dachten, dass es sich bei den Bombern in der Parade um diese B-29 handelte, die nur repariert und umlackiert worden waren, denn es war einfach unmöglich zu glauben, dass es den Sowjets in so kurzer Zeit gelungen war, einen technologisch so komplexen US-Bomber zu kopieren. Die Amerikaner irrten sich jedoch, denn diese neuen Bomber wurden tatsächlich in der UdSSR hergestellt. Bei dem neuen sowjetischen Bomber handelte es sich um die Tupolew Tu-4, und in einem Punkt hatten die Amerikaner recht: Er war eine exakte Kopie der Boeing B-29 ‚Superfortress‘.

Ein Geschenk des Himmels

B-29
Das Original - die B29 Superfortress. Der bekannteste Bomber der Baureihe ist wohl die "Enola Gay" - sie warf die erste Atombombe auf Hiroshima ab und beendete den Pazifikkrieg. (Bild: gemeinfrei)

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Stalin klar, dass sich die Beziehungen zu den westlichen Verbündeten rapide verschlechtern würden. Die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 machten deutlich: Wer in der Nachkriegswelt mitreden wollte, brauchte eigene Atomwaffen.
Doch eine Bombe allein reichte nicht. Sie musste auch ins feindliche Gebiet transportiert werden – und daran haperte es gewaltig. Während die USA mit der Boeing B-29 über einen strategischen Langstreckenbomber verfügten, hatten die Sowjets nichts Vergleichbares vorzuweisen. Ihr einziger viermotoriger Bomber war veraltet, anfällig für strukturelle Fehler und schlichtweg ungeeignet für moderne Kriegsführung.


Die USA waren natürlich nicht gewillt, strategische Bomber an die Sowjetunion zu liefern. Fast während des gesamten Zweiten Weltkriegs trugen Großbritannien und die Vereinigten Staaten nicht nur den Kampf gegen Hitler in Europa und Afrika, sondern auch die gesamte Last des Krieges gegen das japanische Reich. Darüber hinaus versorgten sie ihren Verbündeten, die Sowjet­union, die ganze Zeit über mit einer enormen Menge an lebenswichtigen Gütern; die UdSSR wiederum hatte es nicht eilig, ihren Verbündeten im Krieg gegen Japan zu helfen, da sie der Ansicht war, dass es nicht ihr Krieg war.  Außerdem förderte Japan in all diesen Jahren ungehindert Öl und Kohle für den Eigenbedarf in der UdSSR.  Doch dann kam Stalin das Schicksal zu Hilfe: Mehrere B-29-Bomber, die nach Angriffen auf Japan beschädigt waren, mussten notgedrungen in sowjetischem Gebiet notlanden. Da sich die UdSSR nicht im Krieg mit Japan befand, wurden die Besatzungen in Internierungslager gesteckt und die Flugzeuge beschlagnahmt. Für Stalin war das ein Geschenk des Himmels – wortwörtlich.


Nachdem die drei erbeuteten B-29-Bomber nach Moskau gebracht worden waren, übergab Stalin sie an Andrej Tupolew, den führenden sowjetischen Flugzeugkonstrukteur. Seine Anweisung war unmissverständlich: „Machen Sie ihn nicht besser, machen Sie ihn einfach gleich!“ Großzügigerweise hatte Tupolew dafür ein Jahr Zeit bekommen.
Tupolews Ingenieure gingen mit chirurgischer Präzision vor. Die Flugzeuge wurden bis auf die letzte Schraube zerlegt, sämtliche Komponenten akribisch dokumentiert und detaillierte technische Zeichnungen angefertigt. Doch bald stellte sich heraus, dass 90 % der Materialien und Fertigungsprozesse, die in der B-29 verwendet wurden, in der Sowjetunion schlichtweg nicht existierten.


Kopieren um jeden Preis


Das bedeutete, dass nicht nur die Luftfahrtindustrie, sondern auch die Metallurgie, die Elektronikfertigung und zahlreiche andere Industriezweige auf einen völlig neuen technologischen Stand gebracht werden mussten. Und das alles unter massivem Zeitdruck.
Die buchstabengetreue Nachbildung der B-29 führte allerdings zu absurden Problemen. Das amerikanische Freund-/Feind-Identifikationssystem (IFF) wurde akribisch kopiert – mit dem Ergebnis, dass die ersten Tu-4-Bomber von sowjetischen Kampfflugzeugen nicht als eigene Maschinen erkannt wurden.
Dann war da noch das Problem der Fallschirme. Die B-29-Besatzungen nutzten Rucksackfallschirme, die gleichzeitig als Rückenlehnen dienten. In der sowjetischen Luftwaffe waren hingegen Sitzfallschirme üblich, die in speziell geformte Sitze eingelegt wurden. Nun stand man vor einer kniffligen Frage: Sollte man die amerikanischen Sitze beibehalten und neue Fallschirme entwickeln? Oder die Sitze ändern, um die sowjetischen Fallschirme nutzen zu können? Niemand wollte sich diese Entscheidung anmaßen – schließlich konnte eine falsche Entscheidung in Stalins UdSSR fatale Konsequenzen haben.
Noch absurder war das Problem mit den Maßeinheiten. Die B-29 wurde nach dem imperialen System gefertigt, während die UdSSR das metrische System verwendete. So hatte beispielsweise die Außenhaut der B-29 eine Dicke von 1/16 Zoll – umgerechnet 1,5875 mm. Doch kein sowjetisches Werk konnte Bleche mit einer Genauigkeit von Tausendstel Millimetern walzen. Sollte man also auf 1,6 mm aufrunden oder auf 1,5 mm abrunden? Die Aerodynamiker fürchteten zu viel Gewicht, die Strukturingenieure zu wenig Stabilität. Die Lösung? Die Dicke des Tu-4-Rumpfes variierte je nach Belastungsbereich zwischen 0,8 und 1,8 mm.


Der amerikanische Bomber hatte verschiedenste Handbücher und Anweisungen, die natürlich ins Russische übersetzt werden mussten. Das Problem bestand darin, dass die Flugzeugingenieure kein Englisch konnten und die Übersetzer, die perfekt Englisch sprachen, hatten keine Ahnung von Technik und Luftfahrt.
In einem der Vorflugchecks im Handbuch stand ‚start the putt-putt‘. Man verbrachte viel Zeit damit herauszufinden, was dieses "Putt-Putt" ist, fand aber keine Antwort. Erst als der allererste sowjetische Bomber gebaut wurde und man ihn flugbereit machte, fand man es heraus. Als sie ein Hilfstriebwerk einschalteten, machte es das Geräusch: putt-putt-putt-putt. Das, was im Handbuch stand, war also einfach eine Nachahmung des Auspuffgeräusches des Motors. Aber das sowjetische Handbuch war kein Ort für kindische Namen, und was im amerikanischen Handbuch in nur einem Satz klar erklärt wurde, wurde im russischen Handbuch zu „Zu diesem Zweck müssen Sie das Hilfsaggregat starten, das aus einem luftgekühlten Zweizylinder-Zweitakt-Benzinmotor besteht, der einen vierpoligen Gleichstromgenerator mit kombinierter Erregung antreibt, der das elektrische System des Flugzeugs mit Strom versorgt, wenn die Hauptmotoren nicht in Betrieb sind.“

Stalin Flieger
Zitat

Machen Sie ihn nicht besser, machen Sie ihn einfach gleich!

Joseph Stalins Auftrag an Andrej Tupolew, den führenden sowjetischen Flugzeugkonstrukteur der UdSSR
(Bild: gemeinfrei)

Der erste Flug und die große Parade

Trotz aller Hindernisse wurde der nun Tu-4 genannte Bomber pünktlich fertig. Die ersten Maschinen absolvierten ihre Testflüge erfolgreich, und 1947 waren genug Bomber gebaut, um sie auf der Luftfahrtparade vorzuführen. Als die Tu-4-Staffel Richtung Moskau startete, stellten die Piloten allerdings ein Problem fest: Niemand wusste, wie die Klimaanlage funktioniert. Während des Fluges strömte heiße Luft ins Cockpit, und die Be­satzung musste sich bis auf die Unterwäsche ausziehen, um die Parade in halbwegs erträglichem Zustand zu überstehen.
Trotz solcher Pannen war das Projekt aus sowjetischer Sicht ein Erfolg: Die UdSSR hatte endlich einen eigenen strategischen Bomber – auch wenn dieser eigentlich ‚made in USA‘ war.


Russische Ingenieurskunst – oder deutsche Expertise?


Die Tu-4 war ein Erfolg, aber nicht aus den Gründen, die die sowjetische Propaganda behauptete. Offiziell wurde sie als Triumph der sowjetischen Luftfahrtindustrie gefeiert. In Wirklichkeit hatte das Land auf zweierlei Ressourcen zurückgegriffen: amerikanische Technologie und deutsche Ingenieure.
Nach dem Krieg wurden tausende deutsche Spezialisten verschleppt (wie von den Amerikanern auch. Der bekannteste ist Wernher von Braun.), darunter führende Flugzeug- und Triebwerkskonstrukteure. Sie spielten eine entscheidende Rolle bei der Modernisierung der sowjetischen Industrie – nicht nur in der Luftfahrt, sondern auch in der Elektronik, Chemie und Waffentechnik.
Während die offizielle Geschichtsschreibung den technologischen Sprung als rein sowjetische Errungenschaft darstellt, zeigt die Realität ein anderes Bild: Ohne deutsche Ingenieure und amerikanische Vorlagen hätte die Sowjetunion die B-29 nicht einmal ansatzweise kopieren können. Am 18. Oktober 1951 warf eine Tu-4 die erste sowjetische Atombombe ab. Stalin hatte sein Ziel erreicht: eine schlagkräftige, nukleare Bedrohung.


Ironischerweise war die Tu-4 jedoch nie eine ernsthafte Gefahr für die USA. Ihre Reichweite reichte nicht aus, um amerikanisches Festland zu erreichen.
Heute wird die Geschichte der Tu-4 in Russland als Beweis für die ‚Genialität‘ der sowjetischen Ingenieurskunst gefeiert. In Wahrheit war sie ein Lehrstück über Kopierkunst, bürokratische Absurdität und die systematische Selbsttäuschung eines totalitären Regimes.
Als Wladimir Putin bei der Parade zum ‚Tag des Sieges‘ 2021 behauptete, Hitler im Alleingang besiegt zu haben, wurde dies als völliger Unsinn eines wahnsinnigen Diktators abgetan.
Über Jahrzehnte wuchs dieser selbstbetrügerische Mythos langsam, wenn auch weitgehend auf die Grenzen der sogenannten russischen Welt beschränkt, weil die westliche Zivilisation diesen lächerlichen Geschichten keinen Glauben schenkte. Leider ist das nicht mehr der Fall, wenn der amtierende US-Präsident über die Russen sagt: „Sie haben Hitler besiegt, sie haben Napoleon besiegt. Sie sind eine Kriegsmaschinerie“, dann zeigt das auf erschreckende Weise, wie sich diese Mythen festgesetzt haben.

Bernhard Richter verantwortlicher Redakteur keNEXT
(Bild: B.Richter)

Der Autor Bernhard Richter ist verantwortlicher Redakteur für die keNEXT. Er beschreibt sich selbst als besserwisserischer olivgrün angehauchten Nerd-Metaller mit einem Hang zu allem Technischen, Faszinierendem, Absurden. Das ganze gepaart mit einem deftigen Schuss schwarzem Humor. Der studierte Magister Anglistik, Geschichte und Ethnologie hat mittlerweile schon einige Jahre (Fach-) Journalismus auf dem Buckel, kennt aber auch – dank Ausflug in die PR – die dunkle Seite der Macht.

Privat findet man ihn oft in Feld und Flur – aber auch auf dem Motorrad, in der heimischen Werkstatt Wolfsburger Altmetall restaurieren oder ganz banal (mit Katze auf dem Schoß) vorm Rechner, zocken.

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