Die Automatisierung der Industrie ist per se nichts Neues. Was ist heute trotzdem anders als beispielsweise noch vor fünf oder zehn Jahren?
Peter Liggesmeyer: Für den Vergleich würde ich sogar noch etwas weiter zurückblicken. Die dritte industrielle Revolution hat sich im Wesentlichen in den 1980er-Jahren vollzogen. Damals war es zunächst noch so, dass sehr viele Fertigungsprozesse manuell vonstatten gingen. Im Zuge der Industrie 3.0 ist dann der Computer in die Automatisierung eingezogen und Maschinen, die vorher schon gewisse automatische Fähigkeiten hatten, wurden durch sehr umfassend automatisierte Produktionsmittel ersetzt. Ziel der Automatisierung war es, zum einen die Produktivität und damit die Kosteneffizienz zu steigern. Zum anderen sollte auch eine höhere Fertigungsqualität erreicht werden. Interessanterweise wird genau dieser Vorgang heute noch häufig als ein wichtiger Aspekt der vierten industriellen Revolution verstanden, dabei stehen wir hier an einem ganz anderen Punkt.
Zur Person
Professor Peter Liggesmeyer ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern, Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineering am Fachbereich Informatik der RPTU Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau sowie wissenschaftlicher Sprecher des Forschungsbeirats Industrie 4.0. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Industrie 4.0, künstliche Intelligenz und autonome Systeme.
Dann spielt die Automatisierung heute eine geringere Rolle?
Liggesmeyer: So würde ich das nicht sagen. Die Automatisierung von Fertigungsprozessen ist auch heute noch ein wichtiger Hebel, um eine Produktion effizienter zu gestalten. Sie ist aber eben nicht Kern der Industrie 4.0. Ziel der vierten industriellen Revolution ist es, das Massenprodukt durch ein sogenanntes massenindividualisiertes Produkt zu ersetzen. Das heißt, wir wollen die Industrie so weiterentwickeln, dass es möglich ist, individualisierte Produkte zum Preis eines Massenprodukts herzustellen. Das erfordert ein sehr hohes Maß an Flexibilität. Um dies zu erreichen, kommt es auf eine Vielzahl an Faktoren an. Dabei spielt auch die Automatisierung eine wichtige Rolle, aber sie ist eben nur eines von vielen Mitteln zum Zweck.
Inzwischen ist es schon mehr als zehn Jahre her, dass der Begriff Industrie 4.0 ‚geboren‘ wurde. Wo stehen die Unternehmen heute bei der Transformation?
Liggesmeyer: Ich finde es sehr erfreulich zu beobachten, wie viele Unternehmen sich inzwischen mit den Prinzipien der Industrie 4.0 beschäftigen. Auch vielen kleineren und mittleren Unternehmen ist die Bedeutung dieser Entwicklung bewusst. Gleichzeitig ist es utopisch anzunehmen, die vierte industrielle Revolution könnte bereits abgeschlossen sein. Eine so umfassende Veränderung, wie sie die Industrie 4.0 für unsere Fertigungsprozesse vorsieht, braucht ihre Zeit. Generell zeigt der historische Rückblick, dass sich das Ende einer Revolution zeitlich oft sehr schwer festmachen lässt. Angesichts dessen ist es wichtig, die Industrie 4.0 als Prozess zu verstehen und dementsprechend halte ich es übrigens auch für völlig unsinnig, wenn zum Teil schon der Begriff Industrie 5.0 verbreitet wird. An diesem Punkt sind wir nämlich noch lange nicht.
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- Dieser Artikel stammt aus der ersten Ausgabe von Automation NEXT, dem neuen Magazin für Automatisierung und Konstruktion.
- Automation NEXT ist der Zusammenschluss der Titel ke NEXT und IEE, der digital bereits im November 2023 stattgefunden und nun auch in gedruckter Form vollzogen wird.
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Sehen Sie denn bestimmte Hebel, wie sich die Transformation dennoch beschleunigen ließe?
Liggesmeyer: Obwohl sich wie gesagt auch viele KMU mit der Industrie 4.0 beschäftigen, ist es für sie ungleich schwerer, die dafür notwendigen Maßnahmen voranzutreiben. Eine vollständige Transformation der Produktion kostet Zeit und damit Geld und hier verfügen KMU in der Regel einfach über weniger Ressourcen als Großunternehmen. Was wir deshalb brauchen, sind niedrigschwellige Angebote, die es gerade auch KMU ermöglichen, Lösungen für die Industrie 4.0 einfach mal auszuprobieren. Auf diese Weise haben sie die Chance, das dahinterstehende Potenzial zu erkennen, ohne von Beginn an ein größeres unternehmerisches Risiko einzugehen. Bei uns am Fraunhofer IESE entwickeln wir genau solche niedrigschwelligen Angebote. Dazu zählt zum Beispiel unsere Open-Source-Middleware Eclipse BaSyx, die Unternehmen schnell und mit wenig Aufwand die Umsetzung von Verwaltungsschalen ermöglicht. Dazu gehört aber auch der AAS Data Space for Everybody…
… also ein Datenraum für Unternehmen?
Liggesmeyer: Ja, genau. Der AAS Dataspace for Everybody ist eine Plattform, mit deren Hilfe sich Daten und vorkonfigurierte Softwarelösungen auf Grundlage von Eclipse BaSyx unkompliziert teilen lassen. Mit Blick auf Themen wie Kreislaufwirtschaft und den CO2-Fußabdruck von Produkten ist es wichtig, dass Unternehmen relevante Daten sicher und unkompliziert austauschen können. Der Bedarf wird hier in Zukunft noch weiter steigen. In einer globalisierten Welt lässt sich ein realistischer CO2-Fußbabdruck nicht berechnen, indem nur einzelne Unternehmen entlang der Supply Chain ihre Daten zuliefern. Vielmehr müssen alle Firmen, die an der Lieferkette eines Produkts beteiligt sind, in die Lage versetzt werden, Informationen erheben und austauschen zu können.
Die Anforderungen an Unternehmen nehmen im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte ohnehin weiter zu. Ist das etwas, das aus Ihrer Sicht auch die Industrie 4.0 weiter vorantreibt?
Liggesmeyer: Es ist definitiv so, dass Industrie 4.0 auf das Thema Nachhaltigkeit einzahlt – umgekehrt lässt sich also auch sagen, dass die Debatte rund um nachhaltiges Wirtschaften die Transformation pusht. Was von beiden Seiten sozusagen zuerst da war, steht dann wieder auf einem anderen Blatt. Für eine flexible Produktion braucht es auf jeden Fall einen ganzheitlichen Überblick über sämtliche Fertigungsabläufe. Das wiederum hilft dabei, mögliche Störungen frühzeitig zu erkennen, einen Stillstand der Produktion zu verhindern und somit achtsam mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen umzugehen. Im Sinne der Kreislaufwirtschaft ist es auch von Bedeutung, dass Produkte von Beginn an so designt und konzipiert sind, dass sie sich später auch wieder gut in ihre Grundstoffe zerlegen lassen. Auch dabei hilft Industrie 4.0 durch Schaffung der nötigen Transparenz.
Inwiefern beeinflusst künstliche Intelligenz die weitere Entwicklung von Fertigungsprozessen?
Liggesmeyer: KI hat das Potenzial, die Produktionsprozesse entscheidend zu verändern. Ich sehe darin viele Vorteile; gleichzeitig braucht es dafür aber auch noch ein gehöriges Maß an Forschungsarbeit. Wenn KI etwa im Sinne von vollständig autonomen Robotern in einer Produktion eingesetzt werden soll, müssen wir vorher noch einige Forschungsfragen klären. So wie die aktuell diskutierten KI-Systeme nämlich bislang funktionieren, lernen sie ihr Verhalten mithilfe von Trainingsdaten – man nennt das maschinelles Lernen (ML). Weil die Trainingsdaten aber niemals alle möglichen Fälle enthalten können, lässt sich das Verhalten eines vollständig autonomen Roboters nicht zu 100 Prozent vorhersagen. Damit ein solcher Roboter aber gänzlich ohne menschliche Überwachung sicher zum Einsatz kommen kann, müssen die steuernden KI-Systeme zunächst verlässlich werden. Daran forschen auch wir am Fraunhofer IESE.